Ein Bus um 20:30

Hanga Roa/Osterinsel, 7.10.2016

… die Sache mit den Mennoniten in Santa Cruz ließ uns nicht los. Leider war der Sonnabend rein sabbatmäßig nicht dazu angetan, zu einer großen Forschungsreise auszurücken: Menno-Deposito geschlossen, auch die Latzhosendichte hatte eklatant abgenommen. Aber gerade deswegen kamen wir doch mit einem versprengten Häuflein frisch ausgewachsener Jungmänner ins Gespräch. Was man so Gespräch nennt. „Nit deitsch?“ sagt der pausbäckige blonde Schlaks mit den Sommersprossen. Ich denke, die roten Wangen waren der Tatsache geschuldet, dass man sich hier auf offener Straße mit „Weltlichen“ unterhielt. Aufregend! Das Gesprächsthema allerdings blieb beschränkt – die Frage,  in welcher Kolonie sie wohnen oder wie lange sie in der Stadt bleiben und was man hier besorgen muss, all das blieb unverstanden. Also gingen wir gemeinsam den Aushang der Witwe Ellermann durch, die ihren Hausstand zur Veräußerung bot. Trotz Zeichensprache – Butterfass, Melkschemel… – blieb die Unterhaltung einseitig. Dürfen sie nicht, können sie nicht verstehen? Fast fürchte ich, dass sie nicht dürfen, aber ich denke, wir waren trotzdem eine Supershow für 3 halbstarke Mennoniten. Samstagnachmittag (nicht) zu Hause.

Eigentlich hatten wir einen weiteren Tag in Santa Cruz bleiben wollen, aber die Auswahl an Bussen hinüber nach Argentinien war beschränkter als gedacht. Und Don Pablo von Bolipar hatte gedonnert: um 20:00 hier! O.K. Dankbar für unsere Beratung in Sachen Hotelqualität – der Akkanaut als solcher ist ein freundlich kritischer Gast mit einem Hang zu gnadenloser Offenheit – spendiert uns Esteban ein Taxi zum Bahnhof, das nun rätselvolle Schleifen durch die Hintergassen von Santa Cruz zieht. Uns egal, so lange wir diese ominösen 20:00 Uhr schaffen. Im unablässig  wuselnden Bahnhof „Bimodal“, also der Kombination aus Eisenbahn und Bus, sacke ich auf den Stuhl vorm Busbüro. Geschafft. Noch 30 Minuten. Die beiden jungen Damen die an diesem Samstagabend dort die Stellung halten, bedeuten uns mit einem Kopfnicken, dass wir die Rucksäcke ins Büro kippen dürfen und versinken wieder in ihr Smartphonekoma, aber immerhin, wir sind pünktlich Je länger wir unterwegs sind, umso lieber werden uns ausreichende Pufferzeiten, und in diesem Fall bin ich richtggehend dankbar: die Erkältung ist in vollem Aufwind, und so kann ich den Strom der doch sicher bald anrückenden Mitfahrer aus einem bequemen Sessel im Auge behalten. Eine alte Dame aus den Bergen, in weitem Rock und Kittelschürze, wird vom Sohn abgesetzt. Ein Japaner mit geringen Spanischkenntnissen, flankiert von zwei sprachkundigen Landsleuten. Sonst? Scheint ja nicht sehr voll zu sein der Bus. 20:10. Die alte Dame wird, versehen mit einem Briefumschlag und unverständlichen Instruktionen, weggeführt. 20:20: der Japaner ist weg. „Que pasa con nosotros?“ Schulterzucken, Smartphone. ¡Hola! Der Bus fährt gleich! Achso. Ja. Mitkommen! Rucksäcke schultern. In einer Abseite des Busbahnhofes kriegen wir Baggagetags und werden hinausgeleitet. Der Großteil der Südamerikaner tritt ja seine Reisen per Bus an, nicht anders in Bolivien, und Santa Cruz ist Boliviens größte Stadt, Nachtbusse sind das Hauptgeschäft, also man kann sich das Gedränge vorstellen. Wir laufen hinter unserer Smartphoneuse her, warten kurz an Plattform 48, stehen mit anderen potenziellen Fahrgästen Gepäckträgern mit schweren, klapprigen Karren im Weg und wehren Verkaufsversuche für allerlei heißes Gebäck ab, dessen Qualität man in der Dunkelheit schlecht bewerten kann. Andreas besorgt Sandwiches – no risk, no fun. Umzug – unsere Betreuerin hat sich zwischenzeitlich erkundigt: Busgesellschaft Avaroa, ganz am Ende! Geduld ist gefragt. Sie drückt uns nun ebenfalls einen Brief in die Hand: „… an der Grenze wartet Sr. Miguel xyz auf Euch!“ Wir fühlen uns völlig rundumbetreut, aber, Ende der Busreihe gut, alles gut, es kommt eine Bus der Gesellschaft TransCruz2 (von wegen Avaroa), es steht sogar drauf, dass der Bus nach Yacuiba fährt, sogar unsere Rucksäcke werden angekarrt. Passt doch. Liegesitz nach hinten schnacken lassen, Fleecedecke raus und dann schön abgehustet. Morgen früh: Argentina.

Im Morgengrauen, es ist 05:20, rollen wir in einem ärmlichen Ort an der Südgrenze Boliviens auf den Bushof. Ein Taxifahrer pickt uns auf, er scheint Eile zu haben, aber wir dürfen doch noch pieseln gehen. Der Weg zur Grenze ist weiter als gedacht. 5 km vielleicht? Jedenfalls nicht gerade in Laufentfernung, und jetzt stellt sich auch der Grund für die offensichtliche Eile heraus: das Taxi muss bis 6 Uhr wieder Heim und Hof erreicht haben, denn heute ist autofreier Sonntag. Wir laufen die restliche 200 m zur Grenzstation, reihen uns ein, grabbeln die Pässe hervor. Andreas will die Reihe der müden Grenzpassanten ablichten: „… wo ist eigentlich meine Kamera?“ Adrenalinschub. Die Kamera muss beim Graben nach den Kopflampen aus der Tasche gerutscht sein. Begeisterung macht sich breit. Und Mutlosigkeit. Die Dame, die mich kurz zuvor angesprochen hatte, ob wir einen Brief für Sr. Miguel xyz haben (tatsächlich, Rundumbetreuung!), antwortet mir auf die Frage, welche Chance wir hätten, a. am autofreien Sonntag nach Yacuiba zurückzukehren und b. den Bus samt Kamera ausfindig zu machen, ziemlich unverblümt: “ …has perdido ya!“ Die hast Du schon verloren.

Hinter der Grenze treffen wir unsere alte Dame wieder, die das gemeinsame Ziel mit einem anderen Bus erreicht haben muss, sie verschhwindet aber schnell in einem alten Auto. Uns wird, wie es scheint, ein etwas angejahrtes Taxi zum nächsten Busbahnhof bringen. Wir versehen unsere Schleuserin auf des Taxifahrers Wunsch mit einem Trinkgeld, verstauen das Gepäck zwischen Reisetaschen und Kinderspieldecke einer jungen, mitreisenden Argentinierfamilie und klappern los. Und es fährt und fährt, das Taxi. Kurz: für den Rest der Fahrt nach Salta sitzen wir zusammengepfercht, aber friedlich mit Papa, Mama und Söhnchen. Theorie: schon der geplante Bus von Santa Cruz nach Yacuiba fuhr nicht, also wurden wir irgendwie umgeschichtet. Oder vielleicht hat die Methode auch System, man verkauft ein Ticket ohne festen Platz? Und dann ab Grenze gab es auch keinen verfügbaren Bus, also: ein wildes Taxi, im Busticket inbegriffen. Vorteil: trotz Militärkontrolle an jeder Landkreisgrenze – gern im Abstand von wenigen 100 m, inklusive Herauswuchten der Rucksäcke und Öffnen derselben – waren wir nach 5 Stunden in Salta. 400 km in einem kleinen Ford.

Der Bus fuhr um 20:30. Oder etwas Ähnliches…