Limbo Teego!

Domburg, 26.5.2017

Freitagmorgen. Leben im Fluss:  da muss man schon mal frühmorgens das Schiff von einer Insel entlasten, die mit dem Strom flussabwärts gereist ist. Ich gucke aus dem Cockpitfenster, da steckt das Dinghy – steuerbords in Deckshöhe hängend – in einem Wald fest. Na, so was. Nach kurzem Überlegen, ob sich das Problem im demnächst kenternden Strom von selbst lösen wird – der Eigner leidet an den Folgen des Leberwurstverzehrs vom Vorabend! –  fangen wir gemeinsam an zu stochern und zu schieben. Gut Ding will Weile und auch Kraftaufwand haben, aber die Sicherheit der Mooring ist uns in diesem absolut unsichtigen Gewässer wichtig, und so eine Insel hat ja die Tendenz, sich maßlos zu vergrößern und schwerer zu werden.  Wenn die Mooring dann nachgibt, geht es flussab mit der AKKA – Ziel: Paramaribo – oder flussauf. Wenn wir Glück haben, bleiben wir im letzteren Fall an COOL CHANGE hängen oder der IMAGINE. Nö. Nach etwas Frühsport winken wir der Insel hinterher. Wir haben ihr eingeschärft, auf dem Rückweg, das ist am frühen Nachmittag, woanders Stopp zu machen…

Ein schöner Fluss ist das. Am vergangenen Wochenende haben wir ihn in vollen Zügen genossen. Am Freitagmorgen ging es los, mit dem Auto nach Atjoni, am oberen Suriname Rivier. Die Anfahrt… naja. Die Straße ist in Höhe der aufgelassenen Aluminiumschmelze derartig schlecht, dass wir schon Plan B im Kopf haben – wenn das für die nächsten 100 km so weitergeht, machen wir ein Wochenende zuhause, denn um das Ziel Botopassie zu erreichen, muss man nochmals 2-3 Stunden mit der Piroge fahren. Allerdings ist die üble Strecke hinter der Aluschmelze rasch zu Ende. Gegen Mittag Atjoni – Endhaltestelle für Pirogen auf dem Suriname, das große Bootstaxigewühle. Säcke, Kinder, Mama, Opa – alles wird vom Einbaum auf klapperige Kleinbusse umgeladen und umgekehrt. Das Auto lassen wir, wie empfohlen, auf einer Wiese neben der Polizeistation stehen – wobei sich die Frage stellt, wer ein Auto wie unseres klauen will, das höchstens noch zu Ausschlachten taugt. Wir fragen nach Sando und werden mit einem Abfahrtzeitpunkt um 13:30 beschieden; Zeit für gebackene Bananen und eine Portion Bami aus „Nancy’s Eetwinkel“. Ringsum alles bunt und laut und wirbelig, stets ein Genuss; wo immer es nur noch mit dem Boot weitergeht, macht sich bei uns ein „Outpost“-Gefühl breit. Mit zwei holländischen Krankenschwesterschülerinnen hopsen wir auf die schaukelige Piroge, es kommen noch ein paar Kästen und Taschen und die dazugehörigen Menschen hinzu, und dann knätert der 40PS Yamaha – sehr beliebt! – los, bergauf. Man sitzt auf Brettern und etwas angejahrten Schaumgummikissen auf dem Einbaumboden und schiebt so durch kleinere Stromschnellen. Mal öffnet sich die Landschaft, mal ragen Regenwaldriesen einzeln aus dem Sekundärwald, dann wieder hat man den Eindruck eines echten Urwaldes. Außer Vögeln gibt es nicht viel zu schauen – ab und zu eine Siedlung, ein Waschplatz, eine Taxihaltestelle, eine Gesundheitsstation. Unter Gequackel – nicht verständlich! – werden Taschen abgeladen. Fummel-fummel, das vor dem Wind und Regen schützende Schultertuch wird zum Polsterring, auf den Kopf damit und den Korb mit Einkäufen obendrauf, die Passagiere verschwinden im Grün. Wir haben Regenzeit, der Wasserstand ist hoch, die Untiefen – reichlich dicke, rundgewaschene Granitklötze – ragen nur noch wenig aus dem Wasser. Ein trügerisches Gewässer – zu Trockenzeiten kann die Fahrt 4-5 Stunden dauern, im Zick-zack um die Untiefen.   Weitere Stromschnellen der moderaten Art, vorbei an mehreren kleinen Lodges (was man so „Resort“ nennt – hübsch, aber doch eher unauffällig) und unter Regenwolken hindurch. Gut, dass wir einen Schirm dabei haben… 2 1/2 Stunden dauert die Reise, aber ehe der Hintern vollends platt ist, sind wir da.

Der Zielort ist nicht so urwaldig wie erwartet: am Ostufer liegt das Dorf Botopasi, gegenüber sitzen auf einer Lichtung 6 kleine „Wosu“ genannten Häuschen und das Hauptgebäude unseres Wochenendquartiers, das Botopassie-Hotel. Rucksäcke ins Wosu und „plumps“. Susan bekocht uns, man sitzt mit ihr und den vier anderen Gästen am langen Tisch und plaudert ein bisschen deutsch-holländisch-englisch, wobei herauskommt, dass wir alle Lust haben, am nächsten Morgen nach Botopasi hinüberzufahren und eine Wanderung ins nächste Dorf zu machen.
So geschieht es. Der Haus-Einbaum für solche Ausflüge ist ein bisschen kleiner, entsprechend wackeliger und auch nur mit 15 PS motorisiert – die Einheimischen sitzen allerdings bewundernswert locker, balancieren auf dem Rand um ihren Platz zu finden. In Botopasi erwartet uns unser erstes Saamacca-Dorf. Die Leute gucken kaum auf. Nicht unfreundlich, nur scheu. Oder der Touristen überdrüssig, die doch ab und zu herübergeschaufelt werden? Lindie wird später sagen: „… nur schüchtern!“ Eine der Dorflehrerinnen – insgesamt 9 für 150 Schüler plus Kindergartenkinder – zeigt uns die Klassen, berichtet über Schulsystem und Erfolge, erzählt vom Leben als Paramaribo-Großstadtpflanze im Wald – ihre kleine Flucht: mit dem Buschflieger am Wochenende in die Disco! Und sie führt ein kleines Umweltprojekt vor: „Limbo Teego“, „auf immer sauber“ heißt das auf Saramaccan und dient der Umwelterziehung der Kinder und der Aufklärung für Erwachsene. Nach 6 km durch den (Sekundär-)Wald erreicht man das Dorf Pikin Slee und das Saamakan Marron Museum. Der Besuch ist anstrengend, weil auf niederländisch, und es überschlagen sich so viele fremde Informationen über die Lebensweise der Saamaka, wie sie eigentlich heißen, dass die Übersetzung von unseren Mitwanderern lückenhaft bleiben muss. Wie schön wäre es, wenn man das auf Englisch nachvollziehen könnte, aber selbst die Website ist einsprachig. Ich finde, da gibt es Nachrüstungsbedarf. Jedenfalls zeigt das Museum nicht nur Pütt und Pann wie ein Dorfmuseum, sondern vermittelt einen Eindruck über das sehr autarke Leben der Maroons in Guyana.
Die Saramacca sind einer von 6 Maroon-Stämmen in den Guyanas und zugleich der größte – die Ndyuka bilden eine weitere, sehr große Gruppe, die vier anderen umfassen 30.000 Menschen zusammen. Maroon ist eigentlich ein Überbegriff für entflohene, afrikanische Sklaven der Zuckerplantagen, in den Guyanas begann die Stammesbildung schon im frühen 18. Jahrhundert. Aus der Führung im Museum geht ziemlich eindrücklich hervor, wie dieses Leben im Busch war: eine matrilineal geprägte, polygame Gesellschaft mit sehr starken Regeln – und so sind die Dörfer bis vor einiger Zeit noch organisiert gewesen. Alle Dörfer befinden sich am Fluss, dem einzigen Verkehrsweg in die Außenwelt, die Lebensgrundlage sind Jagd und Gartenwirtschaft. Der Bürgerkrieg in Suriname in den 80ern hat allerdings viel zerschlagen, nicht nur materiell, sondern auch an sozialer Bindung, viele Saramaccans sind nach Französisch-Guyana geflohen. Darüberhinaus wurden nur wenige Kilometer südlich von hier viele Dörfer umgesiedelt, weil man für die Aluminiumschmelze einen riesigen See zur Stromerzeugung angestaut hat. Dennoch werden Traditionen immer noch hochgehalten, und wenn es nur die traditionelle Kleidung der Frauen ist, mit einem ehestandsanzeigenden Tuch um die Hüfte. Oder ihre wunderschöne Frisur aus 3 oder mehr in die Kopfhaut geflochtenen, dicken Zöpfen. Lindie, der im Hotel arbeitet und Initiator der Limbo Teego-Bewegung ist, konnte uns noch ein bisschen zu diesem Lebensstil erzählen, und wusste auch zu berichten, wie schwer es für einen Jungen aus dem Wald ist, in der Stadt Fuß zu fassen. Wahrlich aus dem Wald – die Eltern hatten außer der Behausung im Dorf ein Waldcamp, das man durch stundenlanges Paddeln und lange Fußmärsche erreichte. Dass der Übergang auf eine weiterführende Schule nicht einfach ist, lässt sich denken. Weg von fest gefügten Stammesstrukturen, weg von den Hühnern, die nicht der Nahrung dienen – weder das Fleisch noch die Eier-  sondern rituellen Zwecken. Fort vom selbst gemachten Spielzeug. Fort von den Einweisungen in die Jagd. Seine Schüchternheit hat Lindie definitiv abgelegt – er erzählt offen und mit viel Fröhlichkeit, auch wenn er der Samaraccan-Kultur für die Zukunft keine wirkliche Chance gibt. Die Kinder – das wurde auch im Museum betont – werden in dem Moment, wo sie ins Erwachsenenleben eintreten und die entsprechenden Fähigkeiten erwerben sollen, weggeschickt. Weiterführende Schule… gut? Schlecht?  Rap ist bei den Kindern angesagt – die traditionelle Musik wird bald nur noch Folklore sein, sagt Lindie.   Noch ist es eine einigermaßen lebendige schwarzafrikanische Kultur in Südamerika. Von Hari, dem Taxifahrer, wird sie schlecht gemacht – uns hat beeindruckt, wie lange sich das überhaupt halten konnte.
An wie vielen Stellen in unserer Gesellschaft passiert das? Uns fällt der Aborigine-Häuptling aus dem Northern Territory ein, der sagte: „…. wenn die Jungs mit der Baseballkappe falsch herum nach Hause kommen, nehme ich sie mit hinaus in die Wildnis…“ Alles zu spät?  Vermutlich alles zu spät.

Am Montag nehmen wir die Piroge zurück nach Atjoni und sehen „Saamaka“ mit etwas anderen Augen. Ich fische eine treibende Plastikflasche aus dem Fluss, der Bootsführer macht sogar einen kleinen Schlenker. Limbo teego. Forever clean. Wenigstens das sollten wir vorantreiben.

Da fliegt es…

Domburg, 18.5.2017

„… da fliegt es…“ war ein Spruch meines Vaters, als er im äußerst rostigen Renault Dauphine meiner Schwester das Dreiecksfenster öffnete, ein letztes Mal, es brach nämlich heraus… Erinnert sich da jemand?
Nichts dergleichen heute beim Start der Sojus, die SES 15 in die Umlaufbahn bringen sollte. Leider ohne uns – wir waren eine Stunde zu früh auf Beobachtungsposten und haben uns dann enttäuscht abgewendet… Kann ja mal passieren!  Aber wir hätten sie wohl ohnehin nicht gesehen, da sie genau nach Osten gestartet wurde.
HIER FLIEGT SIE !  Ich find’s immer wieder beeindruckend. Irgendwie ganz schön… Technik. Und Mathe. Und all die anderen Sachen, für die ich zu dumm bin!

Roulez à  gauche!

Domburg, 17.5.2017

Roulez à  gauche – fahren Sie links! Viele solche Schilder haben wir in den letzten Tage gesehen, die ganze West-Ostverbindung zwischen dem Suriname Rivier und dem Marowijne Rivier ist damit gepflastert.

Samstagmorgen: eine der beliebtesten AKKAnautenübungen. Frühes Aufstehen, um 5. Die Schipperin muss noch ihren Rucksack packen, der Eigner rollt dann auch bald aus dem Bett, weil wir AKKA für ein paar Tage allein lassen wollen: wenn wir schon in der Gegend sind, wollen wir endlich das Raumfahrtzentrum in Kourou anschauen. Nach etwas Telefonieren hatte ich den Chef überreden können, dass es einfacher ist, das Suriname-Auto in Albina am Marowijne Rivier stehen zu lassen, eine Piroge zu nehmen und in St. Laurent – gleicher Fluss, anderer Name: Maroni – ein zweites anzumieten. Die Besitzer unserer Moorings wiederum überzeugen uns, dass es schlecht ist, das Dinghy an Land anzuschließen, gerade übers Wochenende mit reichlich Besuchern, also soll Bep uns abholen. Bep betreibt eines der Fährboote zwischen Laarwijk und Domburg. Telefon… nee, 6 Uhr ist zu früh, 06:30 ist zu früh… um 7 will er da sein. Der Schipperin wird schon leicht schwindelig (hat Comey gesagt, finde ich gut: „I feel mildly nauseous…“), denn immerhin müssen die 170 km wahrscheinlich schlechter Straße, die Grenzabwicklung, die Pirogenfahrt und die anschließende Wanderung zu Budget bis 12 Uhr erledigt sein. So weit, so gut, Bep ist dann auch um 7:20 da, mit Singvogel im Käfig (der pfeift uns aber nix), und off we go. Der Schwindel legt sich rasch, denn es ist Samstag, der Verkehr nach Paramaribo fließt ungehindert – ein totales Wunder, denn von der Masse an mehr oder weniger klapperigen Autos, die wochentags durch die Stadt stocken, macht sich der geneigte Leser keine Vorstellung. Wenn man nicht im Stau steht, ist jede Fahrt nach Paramaribo eine mit „drempels“ gepflasterte Strafe. Drempel – English: sleeping policeman. Deutsch: Schwelle zur Geschwindigkeitsbeschränkung. Sehr effektives Mittel zur Verkehrsstauerzeugung – so wie viele andere Autos hier setzt auch unsere alte Toyota-Schlurre mit ihren weichen Stoßdämpfern gern auf, da reduziert man auf unter Schrittgeschwindigkeit; wahrscheinlich ist dies der Grund, warum hier große und kleine SUVs beim betuchteren Teil der Bevölkerung so beliebt sind. Drempel riders! Sehenswert auch die natürlichen „drempels“ – unterspülte Straßen scheinen einfach mit Asphalt übergekleistert zu werden, das macht es schlimmer als „schwere Frostschäden“ in Europa, und meine Lieblingsstelle ist die vor dem Marinestützpunkt Boxel. Hier wurde die Straße vor vielen Jahren mit Ziegeln gepflastert.  Mann, Mann, Mann – solche Löcher.  All das vor Augen, sind wir überraschenderweise schon nach 25 Minuten oben auf der 150 m hohen Brücke nach Osten und winken AKKA in der Ferne zu. Das flutscht ja heute, und tatsächlich, bis auf einen strengen Polizisten, der uns anweist, bei der nächsten Polizeistation einen Surinameführerschein zu beantragen (da Aufenthaltsdauer über 14 Tage!) legen sich uns kaum weitere Hindernisse in den Weg. Bis auf gelegentliche, vom Gegenverkehr durch wildes Lichthupen angezeigte Radarkontrollen. Ortschaften gibt es hier so gut wie keine. Moengo,  Alphonsdorp, das war’s. Um 10 sind wir im Grenzort Albina und irren nun doch noch durch ein finales Schlaglochfeld  – schlecht, wenn die Löcher so groß sind, dass man sich fragt, ob es nicht vielleicht zu tief für uns ist? – und zickzacken um zahllose Einkäufer, die den Straßenmarkt bevölkern. Ein Nest am Ende der Urwaldwelt mit hoher Populationsdichte, so schaut es aus. Das Auto bringen wir an der Brandweer unter – die Empfehlung ist, Behördenparkplätze zu nutzen, das tun wir brav, und die Feuerwehr verdient sich ein winziges Zubrot, 7 SRD pro Tag Parkgebühr… Zoll. Wir sind schon von einem Pirogenfahrer gekeilt worden. Was wird’s kosten? Jetzt kommt mal ein Bekennerschreiben – wir wussten, dass es diesen doofen Trick gibt, aber dass es uns erwischt… Abzocke. Keine weiteren Fahrgäste, also mietet man die ganze Piroge. Für wieviel? Man wagt es nicht zu sagen – das 6 fache des Normalpreises für Touristen. Ihr dürft später selbst rechnen!  Aber drüben ist drüben, die exklusive Piroge geht in Ordnung, auch wenn sich flussabwärts ein unablässiger Strom von Booten hin und her bewegt – aber schließlich sind wir ganz offiziell ausgereist, damit wir bei der Rückfahrt keine Wiedereinreiseschwierigkeiten haben. Machen außer uns… die allerwenigsten. Drüben angekommen laufen wir durch’s Städtchen, vorbei am Markt, am Fußballfeld, am Friedhof. Dahinter verbirgt sich Budgetstation, die unsere Reservierung natürlich nicht erhalten hat, das heißt – das Computersystem schon, denn das hat uns eine Bestätigung geschickt, aber was geht das kleine Containerbüro das zentrale Computersystem an?!. Dennoch: wir kriegen einen VW Up! und überlegen mal wieder, wieviel mehr Auto der Mensch eigentlich so benötigt, wenn überhaupt. Alles prima, mission accomplished! Wir sind in Französisch-Guyana. Roulez à  droite!

Der Nachmittag beginnt mit einem Besuch zum Mittagssnack bei Davide und seinem „Café des Amis du Rallye Nereides“, das ist eine kleine Flotillensegelveranstaltung von Trinidad durch die Guyanas; wer mal gucken will, folgt diesem Artikel der ATANGA. Wer bei Davide die Beine ausstreckt, berührt die EU-Außengrenze. Witzig!
Danach das Pflichtprogramm: Camp de Transportation, das „Bagne“ von St. Laurent – eine Führung mit Claude. Ziemlich anstrengend, weil vollends auf Französisch und ein ziemlich rappeliges, gefärbtes dazu. Claude ist ein echter Guyanais mit einem Amerindiogesicht und hat 101 Geschichten zu erzählen. St. Laurent war eigentlich ein Durchgangslager für frisch angekommene Deportierte und gilt als das freundlichste der Lager in Guyana, mit der Einschränkung, dass man sich mehr als leicht eine Strafverschärfung einhandeln konnte, zum Beispiel durch Unbotmäßigkeiten aller Art, und wenn es gar zu schlimm wurde, landete man statt in den Massenlagern in Einzelhaft oder gar am „Galgen“. Todesstrafe übrigens nur für Kapitalverbrechen an Personen außerhalb des Lagers – wenn sich die Insassen gegenseitig umbrachten, war das vernachlässigbarer Schwund. Überhaupt: Todesstrafe – die „Bagnes“ von Guyana wurden als „trockene Guillotine“ geführt; die Haft an sich führte vorzeitig zum Tode. Es gab zwar auch die mobile Guillotine in St. Laurent, nur 40 mal wurde sie benutzt – dennoch überlebten in Guyana die Häftlinge bzw. Deportierten ihren Haftbeginn im Schnitt nur um 3,5 bis 5 Jahre, da brauchte es keine Guillotine. Wir bekommen eindrücklich die folterartigen Fesselmetoden in den Spezialzellen vorgeführt, und nebenbei auch, was in den Massenlagern, wie wir sie auf der Ile St. Joseph gesehen hatten, alles so vor sich ging. Anketten mit Fußfesseln von 19 bis 5 Uhr. Wer pinkeln oder anderes musste, hatte die Wahl: lecker laufen lassen, das freut in einem für 40 konzipierten Massenlager, das häufig aber mit 80 Männern belegt war. Oder sich gegen Bezahlung den Gang zur Latrine erkaufen, mit was auch immer. Die Latrine war am Ende des Saales positioniert und hieß auch „chambre d’amour“. Fußfessel aufschließen als „Liebesdienst“. Und was der Grauslichkeiten mehr sind. Der gesamte Bagne-Apparat in Guyana diente der Säuberung der Metropolregion Paris: von Vagabunden, Hausierern, Kleinkriminellen und nicht zuletzt der politischen Opposition, Napoleon III war nicht zimperlich; und selbst wenn es in St. Laurent vergleichsweise sanft zuging…  nicht schön.
Danke Claude für die Führung. 40% haben wir mitgekriegt – mir wurde schon wieder „mildly nauseous“, wenn ich an die bevorstehende, ebenfalls französische Führung in Kourou dachte, aber bis dahin: Entspannung bei französischem Essen. Mit ebenso französischen Gendarmen. Schicke, durchtrainierte Jungs in rauen Mengen!
Sonntagfrüh. St. Laurent du Maroni schläft. Eine einzige Kneipe scheint geöffnet, glücklicherweise sehen wir Kaffeetassen vor den rauchenden Männern stehen. Frühstück a la française, das heißt: Kaffee und Croissant, im Beiprogramm ein Elsässer am Nebentisch, der sich über ein paar Deutschübungen freut. Ringsum, sagt er, die übliche Sonntagbesetzung: ausschließlich Männer, vorwiegend Arbeiter, die sich hier auch zu technischen Problemen austauschen. Und mittendrin dieser baumlange, schon etwas angejahrte Mensch, der uns fragt, ob wir denn auch noch „in den Wald“ wollen. Hm, sagen wir, schon – haben wir für Suriname geplant. Dieser Kerl, Rentner mit einem Nebenjob bei der Grenzpolizei, hat ein Hobby, und das heißt: Wasserfälle; besser: unkartierte Wasserfälle. Man geht ab und an mal mit dem Flugzeug auf Erkundung aus der Luft, sucht sich einen Wasserfall aus, notiert die Position, und versucht, das Ding zu Fuß zu erreichen. „Wichtig:  geheimhalten!  Bloß keine Position verraten!“. Eine sehr mühsame Angelegenheit, bei der ihm dann auch rasch die Zigaretten, die er vor unseren Augen kettenweise raucht, ausgehen. „… nee, da gibt es dann auch keine Chinesen mehr, die einem was verkaufen. Ist die ersten Tage etwas unangenehm ohne die Raucherei…“  Ein Wasserfallsammler. Abenteurer, würde ich sagen – dieses Land, seine Tiefen, der ganze unerschlossene Süden sind höchst faszinierend. Es geht in unserem Gespräch aber auch um das Zusammen- oder Nebeneinanderleben der Ethnien und Nationen in St. Laurent bzw. dem Departement Guyana – mit den Brasilianern und den Indios geht’s leicht, die Maroon sind schon eher ein Problem; das sind die afro-amerikanischen Stämme, hier die Ndyuka, die über lange Zeit recht isoliert im Süden der Guyanas in den Wäldern gelebt haben, jetzt aber mit Macht in die Städte drängen. Konfliktpotenzial… Deswegen sind die starken Jungs aus Frankreich hier, die Gendarmerie, die für ein Viertel- oder ein halbes Jahr verpflichtet werden.

Wir brechen auf, es sind noch 200 km bis Kourou. Das kennen wir von unserem Besuch mit AKKA 2008 und versuchen nun, uns in einer sich rasch entwickelnden Stadt wieder zurechtzufinden. Gar nicht so einfach. Haupträtsel: der Supermarkt und die Apotheke, wo es damals Lesebrillen und Antihistaminika gegen Hitzepickel gab, wo ist die geblieben? Eine kleine Meinungsverschiedenheit als Sonntagsvergnügen. Als das Rätsel gelöst ist, können wir uns getrost dem Angebot des „Glacier des 2 Lacs“ hingeben – so ein leckeres Eis, und so schön schlecht wird einem von den Mengen! Der Verdauungsspaziergang fällt prompt ins Wasser, ins von oben rauschende, aber es rauscht nur kurz. Zum Feierabend steht über dem Leuchtturm ein wunderschöner, großer Macao-Ara in den Böen, über den benachbarten Mangobäumen ein zweiter. Rote Blickpunkte vor Gewitterwolken.

Montag. Nochmals Frühstück à  la française, dieses Mal in der Totaltankstelle. Nicht unbeliebt um 7 Uhr in der Früh, sicher frequentiert von vielen Mitarbeitern des Raumfahrtzentrums, das nur wenige Kilometer entfernt liegt.
Unsere Tour stellt sich als wirklich lohnend heraus: zunächst das Kontrollzentrum für die Einsatzleitung, die höheren Chargen, für die Wissenschaftler, Politiker, Presse.  Dann das noch wichtigere, in einem weit abgelegenen Bunker liegende für die Techniker. Die Gebäude für den Zusammenbau der Ariane-Raketen und die Endmontage der Satelliten. Das Launchpad – alles mit viel informativen Fakten dargeboten, absolut sehens- und hörenswert; und entweder rutscht es heute schon besser als noch im Bagne von St. Laurent, oder die beiden Guides, Lucie und Renata, sind einfach besser zu verstehen. Nicht zu sehen bekommen wir das Sojus-Launchpad, denn dort wird ein Start vorbereitet; morgen, am Donnerstag um 08:54 werden wir an den Himmel starren! Interessant übrigens die Stammbesatzung für das Gelände, neben Polizei und Gendarmerie auch die Feuerwehr, bei der wir uns schon auf der Île Royale gewundert hatten, was die – auf einer Plakette verzeichnete – Pariser Feuerwehr hier zu suchen hat. Es sind nicht einfach die „pompiers parisiens“, sondern eine Militäreinheit, die auf Explosivstoffe spezialisiert ist, und die auch die ersten sind, die den Startbereich nach einem Abschuss wieder betreten. Das Wachpersonal: die Fremdenlegion für den europäischen Teil der Startpads und die dazu gehörenden Gebäude, sowie eine russische Eliteeinheit für den Sojusbereich; bestimmt alles ganz zarte Kerlchen. Dass hier überhaupt Sojus abgeschossen werden liegt an einem Chartervertrag, den die ESA bzw. CNES insbesondere für das Galileo-Programm geschlossen hat. Dessen GPS-Satelliten sind für die kleine VEGA-Rakete zu dick, und für die Ariane zu klein, es sei denn, man schickt gleich 4 auf einmal hinauf. Im Vergleich zum schon verlinkten Start der großen (aber nicht mit der gigantischen Saturn der Amerikaner zu vergleichenden) Ariane hat die Sojus einen recht einfachen Start – rein kerosingetrieben geht das 6-5-4-3-2-1-bumm, décollage“. Fertig. Da hat es die Ariane schon schwerer – faszinierend zu sehen: 4 Antriebseinheiten – die beiden Booster mit Festbrennstoff, einem Aluminiumperchlorat namens „Propergol“, in der Mitte der „vulcan“-Motor mit dem riesigen Zentraltank, der mit Sauerstoff und Wasserstoff gefüllt ist, und oben drauf noch einer für kryotechnischen Treibstoff für die Endphase, in der der Satellit seine neue Heimat erreicht.
Zum Abschluss ein Film über die ziemlich wertvolle und penibel kontrollierte Ökologie des Areals – mit Jaguar und Anaconda und was sonst so kreucht und fleucht. Ihr seht – mir hat’s gefallen. Das kleine Museum auch – das stopfte noch einmal ein paar Verständnislücken. Wenn man so die Nase an einen Vulcan-Motor hält, fragt frau sich, was eigentlich an einer Fahrradnabe oder der Oberfadenspannung an meiner Bernina so schwierig ist. Guter Besuch!

Nebenbei gab es noch eine weitere Begegnung mit einem Franzosen, der einige der unangenehmeren Details zum Leben in Französisch Guyana beisteuerte. Als da wäre: die Tatsache, dass Ndyuka und andere Stämme aus allen Teilen der drei Guyanas nach „Frankreich“ strömen, um an den Segnungen des französischen Sozialnetzes teilzuhaben. Dazu muss man allerdings die Kinder in die Schule schicken, dann ist alles geritzt. Ein merkwürdiges Kontrollmittel. Ob’s stimmt? Schwangerschaft ist auch eine Berechtigungsgrundlage, also sorgt man dafür, dass die Mädchen sehr früh schwanger werden, 11-jährige Mütter sollen keine Seltenheit sein. Angeblich fahren auch Busse aus Paramaribo nach Albina, wo man sich zwecks kostenfreier ärztlicher Behandlung nach St.Laurent übersetzen lässt. Wir sind perplex – das erklärt den regen „kleinen Grenzverkehr“, den wir auf dem Maroni gesehen haben, zumal Claude zu berichten wusste, dass man natürlich zum Einkaufen nach Suriname führe. Ob möglicherweise die Freizügigkeit dieses Grenzverkehrs auch für Stabilität in der Region sorgt?  Im Süden dringen die illegalen Goldgräber aus Brasilien über die Grenze – da fragte auch der frankreichkritische Claude schon, warum man das nicht unterbinden kann und das Gold für die eigene Provinz ausbeuten. Ich fürchte, die Frage ist einfach zu beantworten: das ist schlicht zu unübersichtlich, dichtester Urwald, kein Weg, kein Steg. Xavier sagt: da sind richtige Städte im Wald, mit allen Klassikern eines Goldrausches –  Kneipen, Bordelle, Selbstjustiz. „… und dann kommt die Gendarmerie und bittet die Herren, das Land zu verlassen. Wenn die Polizei abrückt, sind sie am gleichen Tag wieder da.“ Hm… (Gold)Räuber und Gendarm. Doofes Spiel. Frankreichs problematischstes Département.

Zurück nach St. Laurent. Wir haben drei ziemlich gute Tage erwischt in dieser regenreichen Jahreszeit. Sagte ich schon, dass die Regenzeit nicht nur gemütlich ist?  AKKA kriegt regelmäßige Essigpackungen, gegen den Schimmel… Wie sie wohl aussieht, wenn wir wiederkommen?

Dienstag. Die Pirogenfahrt für üppige 8 Euro, der normale „weiße Franzosen-Tarif“ (braune und weiße à  4, schwarze Leute à  3 ‚¬!). Wir besuchen kurz Moengo, ein Städtchen, das mit ehemals sicher hübschen und geräumigen Wohnhausern glänzt. Glänzte – denn heute steht das meiste leer und ist dem Verfall preisgegeben; der Bauxitabbau ist versiegt, die Hafenanlagen am Fluss verwaist, die Geschäfte leer. ALCOA hat das Land verlassen, es gibt auch keinen funktionierende Aluminiumschmelze mehr. Ein trauriger Anblick, nicht nur wegen des strömenden Regens. Heimwärts, AKKA wartet! Et Roulez à  gauche!

Gruß nach Lampoldshausen…

Domburg, 7.5.2017

Kleiner Schreck in der Abendstunde…

Donnerstag. Wir wollen ein Leihauto mieten, um ein bisschen beweglicher zu sein, und Rishi, der indische Verleiher, will ihn uns noch am Abend übergeben. Das braucht ein paar Papiere, und der Eigner fährt zur AKKA zurück, ich warte auf Rishi. Man schaut so in die Runde, der Blick fällt auf den Himmel – was ist das denn? In der untergehenden Sonne wird eine äußerst merkwürdige Wolke angeleuchtet. Zu dick für Kondensstreifen.  Ups?  Und der Eigner fährt geradewegs drauf zu, scharfer Lichtpunkt, Leuchtbahn – ein Geschoß? Rakete?  Donny und die Koreaner? Flugzeug? Die Nachrichten der letzten Zeit lassen einen vielleicht abwegig denken, dabei sind wir hier gar nicht so weit weg „vom Schuß“. Neben mir steht in der Bar eine Inderin und klatscht in die Hände: „Kourou!“  Hehe! Ich freu mich auch, für die Leute in Guyana, die Mitarbeiter, die wir in den àŽles du Salut getroffen haben!  Der Streik in Französisch-Guyana ist beigelegt (man spricht von 1,5 Mrd. ‚¬), das Raumfahrtzentrum ist wieder aktiv, die Koreaner kriegen einen neuen TV-Satelliten und die Brasilianer sind grottenstolz, dass sie endlich ihren eigenen geostationären Satelliten für allerlei zivile und militärische Aufgaben bekommen. Wenn wir es gut timen, lännen wir vielleicht den Sojus-Start am 18.5 sehen? Was zum Gucken ist das in jedem Fall, mit ein bisschen Space-Gänsehaut für die Schipperin.

Hier ist, was man dazu in YouTube sehen kann: Flug 236 der Ariane 5 vom 4.4.2017 . gewidmet dem Raketentestzentrum in Lampoldshausen im Heilbronner Land… Putzig! Schaut’s Euch an – und wir… vielleicht schaffen wir es doch noch auf dem Landweg ein bisschen näher zu rücken.