Idylle und andere schöne Sachen

Franzosen in Sicht?! Ausguck auf Brimstone Hill Fortress

Charlestown/Nevis, 16.5.2018

Bevor wir einen langen Schuh zurück nach Martinique machen – aarrgh! Gegenan! – noch ein paar Worte zu den vergangenen Tagen. Nach so viel Irma-Überbleibseln sind wir bereit für „mal was Schönes“, und das erreicht man nach 50 Meilen, jaja, gegenan, mit der Insel Statia, seligen Angedenkens von Charterreisen. Nicht viele Segler dort, 3 andere Boote vielleicht, aber ein schickes neues Dock für Fischer und Dinghys, und ein Österreicher hat sich mit einem semi-mobilen „Bordwalk-Café“ breitgemacht – nach dem Einklarieren im benachbarten Behördencontainer gibt es daher guten Kaffee und ein Eiskrem, dazu ein paar Bücher aus dem Boardwalk-Regal. Sehr freundlich. Nebenan sitzt ein junges holländisches Paar und genießt den Freitagabend, kühler Rosé und schicke Tapas, während die Söhnchen ihre Dreiräder traktieren; die militante deutsche Mutter würde – so dicht am Dock – Krämpfe kriegen. Hier gibt es viele Gastarbeiter aus dem europäischen Heimatland, die kurze oder längere Dienstperioden in dieser kleinen holländischen Gemeinde verbringen. Ein entspannter Feierabend zwischen Anglern und wenigen Yachties, AKKA schaukelt dekorativ im (beträchtlichen) Schwell vor den Relikten einer ehemals sehr reichen, holländischen Kolonie. Fast schon idyllisch zu nennen.
Ach ja. Idylle. Hatte ich kürzlich mit „muss sein“ bezeichnet. Natürlich muss Idylle nicht sein, aber es überkommt einen manchmal dieses nicht unwillkommene Gefühl. Manche suchen allerdings die Idylle oder sonstige Idealzustände – und finden sie nicht. Kürzlich trafen wir ein Schiff, das frisch aus den Kapverden eingetroffen war. Die Kapverden kennen wir nicht, oder nur sehr sporadisch – 1991 gab es einen 3-tägigen Notstopp in Mindelo, um eine Mitseglerin im Krankenhaus vorzustellen, ein sehr begrenzter Eindruck von einem damals sehr armen Land mit, zugegeben, sehr mitreißender Musik. „Ach, die Kapverden…“, Musik, Sang und Tanz überall, heißt es von den beiden Seglern, während wir abends im lauen Abendwind am Strand von Dominica sitzen und uns vom Barbecue bedienen. Lange Gesichter machen sie:  „Es ist schrecklich hier! Nichts los… Die englischen Inseln sind furchtbar! Und niemand tanzt…“  – man war auf einem der abgelegensten (und abwegigsten) Inselchen gelandet und hatte auch schon eine Nacht vor Antigua geankert, das erlaubt umfassende Urteile. „… und die französischen Inseln haben nichts zu bieten außer günstigen Lebensmittelpreisen!“ Dito: vor Marigot/St.Martin geankert und  gewiss, der Blick kann dort an Hurrikanschäden hängenbleiben, aber nee: „…so touristisch! Schrecklich!“ Anfangs versuche ich, dem entgegenzutreten, aber die Urteile und Vorurteile versiegen nicht, die beiden sind in Gedanken auch schon unterwegs nach Guyana, auf der Suche nach dem verlorenen Idyll. Mit Sang und Tanz – mein Einwand, dass am Wege Trinidad liegt, das eine besondere Musiksparte pflegt, gilt nicht, „…das ist nur für Touristen“ (stimmt, ich freu mich schon auf das Big5-Konzert. Allein unter Trinis.)
Schön auch die Unterredung mit einem gar nicht so uner-/unbefahrenen Amerikaner, wir warten in Statia auf die Sonntagsbesetzung der Hafenkapitanerie, denn wir müssen noch unseren Inselobulus entrichten, Wochenend-Dienstzeit 9-11. Niemand da, und es dauert. Im 15-Minutentakt gehen wir zur Frau an der Wache und fragen, wie es aussieht mit der Dame vom Dienst. „Ich kann sie nicht erreichen!“ Zoll und Immigration sind schon erledigt, aber wir kriegen die Papiere nicht, ehe wir die Quittung aus der Kapitanerie vorlegen. Ich find’s lustig, auch weil man Lebensgeschichten austauscht, bzw. in diesem Fall einer solchen lauscht: Kinderarzt mit diversen Auslandseinsätzen von Salzburg bis nach amerikanisch Samoa, später ein Yacht-Geschäft in Biloxi – bis Katrina die Texasküste trifft (wann war das? 2005?). Nach Totalverlust ein paar Jahre Oregon, und dann auf den Kat gezogen. Politisch eindeutig demokratisch gesonnen mit harten Worten bezüglich seines Präsidenten. „Aufgeschlossene Leute“ denken wir, nur die Bemerkungen über die Polynesier in Samoa sprechen ein bisschen dagegen  – bis der Satz fällt: „In Martinique sind wir umgedreht – diese Inseln sind ja alle gleich!“ Motto: siehste eine, siehste alle. Oh, je, was haben wir hier die ganze Saison gemacht? Immer die gleiche Insel angeschaut, egal ob sie St. Vincent oder Dominica hieß? Französisch, englisch, nie kolonialisiert…  alles egal, keine Unterschiede im Kopfschmuck, in der Mentalität, vulkanisch, nicht vulkanisch – alles eine Sauce. Haben wir gar nicht bemerkt – das kommt vom naiven Gemüt, das wir mit herumschleppen. Obendrein können wir auch noch lachen, wenn – nachdem die Hafenkapitänin höchstselbst die dienstliche Lücke gefüllt hat – die Sonntagsvertretung doch noch eintrudelt: sie musste doch erst in die Kirche! Eben. Wir kichern. Schlichte Geister, die AKKAnauten. Wofür wir dankbar sind.

ParaMira – Lunch-Café im Gingerbreadstil

Wo haben wir bloß hingeguckt und das Einerlei nicht erkannt? In Statia zum Beispiel unterhalten wir uns darüber, ob  man in dieser „puppigen“ (O-Ton Mutter Haensch) Umgebung leben könnte (Antwort: nö!). Ein Dorf, das auf den Grundmauern des großen goldenen Jahrhunderts der Holländer steht – die hatten sich nämlich zeitweise (nicht immer, siehe unser Fort de France-Besuch) aus den Händeln zwischen Franzosen und Briten

Relikt des Goldenen Zeitalters – 1850 leicht hurrikangebeutelt

herausgehalten und dabei kräftig abgesahnt, gerade in Statia (auch Sint Eustatius), das Ende des 18. Jahrhunderts Umschlagort für alle Handelswaren der neuen Welt war. Namentlich Waffen und Munition wurden an die sich von Großbritannien lösenden Kolonien in Nordamerika vertickt, und was sie sonst noch für ihre Unabhängigkeitsbestrebungen brauchten. Dass der Schuss im Endeffekt nach hinten losging, lag daran, dass die Briten nicht

Eines der wenigen originalen Lagerhäuser in Gallows Bay/Statia. Aufgehübscht.

verzeihen mochten, dass der Gouverneur von Statia die „Andrew Doria“, ein Schiff, das unter der neuen Flagge der USA fuhr, mit Salut begrüßte und damit die abgefallenen Kolonien als eigenständig anerkannte. Der nachfolgende Krieg machte dem goldenen Zeitalter den Garaus, und so schreiten wir nur im Meer versunkene Mauerreste ab, blicken in die leeren Fensterhöhlen der alten Synagoge, bestaunen die mächtige Kirche ohne Dach – diese wehrhaft ausschauenden Kirchen mit dicken Hurrikanshuttern waren zwar immer auch Schutzraum, aber ganz offensichtlich hat das bisweilen nicht gereicht. Danach schlängeln wir uns durch enge Gassen zum ParaMira, zur  Eiskaffeepause auf der noch puppigeren Terrasse eines Lunchcafés, buntes Holzdekor, Zäunchen, Gärtchen. Wir hatten es uns übrigens verdient: der Spaziergang vor diesem Sightseeing war Aktivurlaub – erst eine Plastiktüte vom Baum oder Zaun pflücken, dann alle 5 Meter eine PET-Flasche oder anderen Plastikmüll aufsammeln, bis die Tüte voll ist. Und noch ne Tüte… So schafft man was für’s Idyll!

Wir haben natürlich die Flagge gedippt – Brimstone Hill Fortress in der Vorbeifahrt

Vieles ist nicht idyllisch, aber schön und wenn nicht schön, dann interessant. Die gigantische Fortanlage Brimstone Hill Fortress auf St. Kitts ist beides –  da haben wir schon in den 90ern große Augen gemacht und darum den Wiederholungsbesuch gewagt. „Das Gibraltar der Karibik“ – beeindruckend! Oder Nevis – eine Rundfahrt mit dem Maxitaxi über die „Insel der Plantagenhäuser“, prächtig, prächtig und unheimlich: hier kam

Wehrhaft ist gar kein Ausdruck

man auf die brillante Idee, nach Abschaffung der Sklaverei einfach billiges Tagelöhnermaterial zu „produzieren“ –  mit den Nachfahren sitzen wir im Kleinbus. Sehr ansehnliche Anwesen, Idylle mit Kloß im Hals.

Man baut an zwei weiteren Cruiselinerdocks. Urrgs.

Passend zum Thema sitzen wir ein paar Tage (ja, der Blogeintrag ist gut abgehangen!) später in St. Pierre auf Martinique, genehmigen uns ein „Lorraine“ am Ufer  und feiern mit den Einwohnern ein richtig langes Wochenende – erst Pfingstmontag, und oben drauf den Jour de l’Abolition , die Abschaffung der Sklaverei.
Hier ist jetzt Saisonende – St. Pierre ist sowieso ein hübsch verschlafenes Nest, aber nun geht alles in die (Festlands-)ferien, und so schläft es sich nochmal so fest unterm Mont Pélé. Ganz beschaulich!

Zwischen all diesen halb- und unidyllischen Ansichten schaukelt AKKA uns weiter südwärts. Idylle – für mich, wenn Tropik- und Fregattvögel über uns schweben. Und die machen dann das Gefühl gleich wieder zunichte mit ihrem ewigen Zank um die Beute.

Idylle. Kann, muss aber nicht – es ist auch ohne sehr schön!


* ; seit 2010 gibt es die „Niederländischen Antillen“ als eigenständiges niederländisches Bundesland nicht mehr, sondern es gibt stattdessen 3 kleinere Bundesländer: Sint Maarten, Aruba und Curacao, während die kleineren Inseln Saba, Statia (eigentlich Sint Eustatius) und Bonaire dem Bund als spezielle Gemeinden zugeordnet wurden. Diese Reorganisation hat möglicherweise sein Konfliktpotenzial – wir hörten zweimal „… wir hoffen, dass die Holländer das jetzt machen!“ Bisschen abgehängt sind sie…