Wenn die Zeit lang wird

Chaguaramas, 22.8.2018

Wenn die Zeit lang wird, ist es den Leuten meist langweilig – uns allerdings nicht. Hitzebedingt geht alles langsam voran, immerhin mit Betonung auf „voran“. Der Eigner hat die Technik voll im Griff, die Schipperin nimmt die Winschen auseinander und um es kurzweilig zu gestalten, ruft der Winschenpflege-Aufseher am einen Tag: „… mehr Fett!“ und am nächsten: „… weniger Fett!“.  Frau wird es wohl gelegentlich etwas zu gut meinen dürfen, oder? Jedenfalls ist der Fetttopf, der noch vom ersten Aufenthalt in Trinidad 2009 stammt, nach der vollen Runde, sprich: 8 Winschen, zu einem Viertel geleert. Wir können noch ein paar Jahre segeln, will das heißen.
Das war jetzt eine langatmige Geschichte aus dem wirklichen Leben. Eher unwirklich, aber dennoch ziemlich lang, kamen uns gestern 30 Sekunden am frühen Abend vor. Wir haben es quasi in die Tagesschau geschafft, wie wir gerade feststellen: um 17:30, wir sitzen im Cockpit, fängt AKKA an sich zu schütteln, und nicht nur sie – sämtliche Boote ringsum rappeln mit den Riggs, AKKA zittert, die Schipperin auch. Ein bisschen. „Was ist das denn?!“ fragt der Eigner. „E-e-e-erdbeben!“ Während ich die Lage überdenke – wie ist die Nähe zu den Nachbarbooten, können die Masten umfallen?! – macht Mr. Cool einen Versuch, das Geschehen als Video aufzunehmen, was daran scheitert, dass er die Videofunktion an der Kamera nicht gut kennt; im Endeffekt sieht man auch nichts, das ist wie mit großen Wellen auf See – abbilden kann man das nicht. Nach ein paar Sekunden Geschüttel – endlos! – fällt mir meine Nähmaschine auf dem Vorschiff ein; der Nähtisch, das sind 2×2 gestapelte Plastikboxen mit einem herrlich federnden Arbeitsbrett dazwischen. Ich sprinte hin – das war knapp, die schwere Maschine wollte sich gerade ins Klofenster stürzen.  Puuh! Dann wird das Zittern weniger…  Ein Nachbar sagt später: mindestens eine Minute. Ich bin sicher, dass es endlos schien, aber deutlich kürzer war *.

Ich klettere die Leiter runter – immer auf der Hut, dass einem die Nachbarschiffe nicht aufs Haupt fallen. Hinterm Zaun schnattern die Securityleute aufgeregt: „… das war Trini-Rekord!“ Auf manche Rekorde bin ich nicht wirklich scharf. Wir gucken uns um. Die Stützen, auf denen AKKA steht, sind tatsächlich ein paar Zentimeter gewandert, wir stellen sie nach und wackeln auch mal vorsichtig an denen der Nachbarboote. Reicht das für ein etwaiges Nachbeben?

Andreas fragt, was das wohl für eine Magnitude war – es gab kürzlich schon einmal einen Wackler in der Nacht, der aber kaum erwähnenswert war. Was tut man auf so eine Frage?! Internet konsultieren (der Strom ist zwar weg, aber Digicel Mobiltelefonie ist da!) – und da steht es auch schon: „Magnitude 6.8 in 80 km Tiefe vor der Küste von Venezuela, vor 7 Minuten“. Die Werte werden später noch korrigiert, etwas tiefer, etwas stärker. M 7.3 ist es schließlich – die armen Venezolanos dort drüben… Eine Tsunamiwarnung geht raus und wird wieder aufgehoben, „unsere“ Facebookgruppen schwirren vor Nachrichten: die Leute in Grenada haben das Beben im Wasser an der Mooring gespürt, Carriacou… St. Lucia… alle schreiben „habt Ihr so etwas schon erlebt?“. Bootseigener melden sich aus USA und Europa – „…wie sieht es auf den Boatyards aus“? In Martinique darf ein Flieger nicht landen, weil erst einmal die Landebahn überprüft werden muss. Die Schäden halten sich glücklicherweise in Grenzen. In unserem Supermarkt hat es die Dosen und Flaschen aus den Regalen geschüttelt, im Sails-Restaurant unten am Dock zieht sich ein langer Riss durch die Musikbühne, ein paar Wasserrohrbrüche in der Gegend.  Wie es wohl in den Dörfern oben in den Bergen aussieht? Wir hatten ziemlich ergiebige Regenfälle, da muss so mancher Erdrutsch passiert sein. Übrigens: zur Häufigkeit von Erdbeben bleibt zu sagen, dass das Geschehen von gestern auf dem o.a. Link schon nicht mehr auf der ersten Seite erscheint. Ein ganz schön wabbeliger Planet, unsere Kugel.

Ich bin froh, dass wir zu Hause waren – die Bilder im Fernsehen bzw. Internet zeigen Panik von Leuten in Port of Spain, Gekreische, Schüsse (Leuchtspurmunition, wer und warum?!), all das wäre nichts für mich gewesen; für mich war ausreichend, die Masten schwanken zu sehen und das Rigg-Gelärme und die Warnsirenen von den Schiffen unten am Industriedock zu hören. Unvorstellbar was passiert, wenn es mal so richtig scheppert. Die letzten, schweren Erdbeben in dieser Region sind 30 und 50 Jahre her, und die lagen in der Magnitude unter dem heutigen Geschehen.  Nachbeben? Haben wir abbestellt, leider wird trotzdem noch geliefert.
So ist das, wenn die Zeit lang wird – und diese 30 (?!) Sekunden waren ausreichend lang.

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* das Erdbebenforschungszentrum der Universität der West Indies hier in Trinidad straft mich Lügen: die Stärke variiert je nach Messmethode und beläuft sich nach ihren Messungen auf  M 6.9, und es hat ca. 90 Sekunden gedauert.