Nichts. Oder: Möhrentag

St. Helena, 23.6.2016
Danke, lieber Neffe, für das Link zum SPIEGELartikel über den hiesigen Flughafen! Das hat uns sehr gefreut!
Zunächst mal, lieber Spiegel, ist diese Insel überhaupt kein „Nichts“, das ärgert mich ein bisschen, und schon gar nicht im „Nichts“. Dieses Nichts ist unser hauptsächlicher Lebensraum, und ohne das „Nichts“ wäre der Mensch€¦ nichts. Ende der Philosophiestunde. Jahaa, ich weiß, wie es gemeint ist.
Die Insel, das haben wir letzten Freitag gesehen, ist erstaunlich vielfältig – karge, trockene Saumbereiche am Meer, fruchtbare Täler, bewaldete (wenn auch weitgehend von der endemischen Flora befreite) Berge, immerhin 800 m hoch. Viel Vulkangestein in interessanter Schichtung. Skurril erodierte Formationen wie „Lot’s Wife“. Dicke Kühe grasen extrem steile Weiden ab. Der Neuseelandflachs, ein Agavengewächs, das ehemals über die Produktion von Sisalseilen für einen bescheidenen Reichtum gesorgt hatte, macht sich übermäßig breit. Ein Regenpfeifer, der Wirebird, führt als unscheinbarer Trockenflächenbewohner ein etwas bedrohtes Leben: die Menschen haben natürlich allerlei unnatürlichen Unfug eingeschleppt oder zum Vergnügen ausgesetzt, Katzen, Hunde, Ratten€¦ und solcherlei Feinde mögen Bodenbrüter nun mal nicht. Aber: der National Trust macht Anstrengungen zu seinem Schutz, und gerade in der letzten „Independant“ – es gibt außerdem noch den „Sentinel“ – stand, dass die Wirebirdzahlen wieder steigen. Freut mich sehr. Und so weiter.
Ganz wesentliche Frage noch zum „Nichts“: wieso kann man aus dem „Nichts“ heraus einen so grässlichen Muskelkater entwickeln wie wir in der vergangenen Woche? Zum Abschluss unseres Ausfluges waren wir auf die dämliche Idee verfallen, man könne ja die 699 Stufen der Jakobsleiter vom „Ladder Hill“ nach Jamestown hinabsteigen. Kann man. Geht auch ganz gut, man hat nur unten ein bisschen Pudding in den Seglerbeinen, und am nächsten Tage kann man sich nicht so recht bewegen€¦ Zusammengefasst ist St. Helena also ein Nichts mit hohen Ansprüchen an die körperliche Fitness, mit (immer noch ) vielen endemischen Pflanzen und Tieren und zwei Zeitungen, mit 2 Radiosendern und regiert von der ersten GouverneurIN seiner Geschichte. Geschichte, die ein sehenswertes Museum sehr schön zeigt.
Wir waren am Freitag natürlich auch in Longwood, das lässt man sich ja nicht entgehen, und am „Tomb“, der Grabstätte, die sich Bony für den Fall seines Todes ausgeguckt hatte, in einem engen Seitental, unter Weiden, nahe an einer Quelle. Idyllisch. Er soll hier öfter spazieren gegangen sein und hat dann auch 19 Jahre streng bewacht hier gelegen, bis er exhumiert und nach Paris überführt wurde. Das Haus selbst – oh, weh! Sicher nicht schlecht, aber ganz sicher nichts für den anspruchsvollen ex-Kaiser. Auf der Fahrt dorthin ahnt man schon – die vielen Flechten an den Bäumen kommen nicht von ungefähr, und in der Tat war Longwood House mitten in den aufsteigenden Passatwolken gelegen. Hübsch feucht da oben! Mahlzeiten wurden unfranzösisch kurz gehalten, da das Esszimmer gegen die extreme Feuchte stets mit (ebenfalls nassem) Holz beheizt wurde. Huust! Und so fort. Kein wirkliches Vergnügen, dazu ein englischer Oberbewacher, der sich als besonders harte Nuss erwies: der Gouverneur Sir Hudson Lowe; der hat seine Pflicht erfüllt und Napoléon nicht noch einmal entwischen lassen, unter anderem, weil er die Bewohnerzahl der Insel mit 3000 Wachsoldaten (!) zu einem Allzeithoch angehoben hat. Miteinander gesprochen haben die beiden nur eine Handvoll Mal und das auch nur im ersten Jahr. Ich kann mir allerdings vorstellen, dass auch „der Kaiser“ weder ein angenehmer Gefangener noch ein guter Gesprächspartner war (angeblich hat er bezügliche Lowe verlauten lassen, dass er nicht mit Leuten argumentiere, die er nicht auf dem Schlachtfeld getroffen habe€¦).
Aber St. Helena ist viel mehr als Bonaparte, auch geschichtlich. Alle berühmten Seefahrer waren hier, viele der damaligen Astronomen (Maskelyne und Halley€¦) und Charles Darwin hat die Beagle für eine Woche vor Jamestown ankern lassen und kartiert, was das Zeug hält – das hat dem Käpt€˜n sicher gut gefallen. Damals gab es noch keine Moorings, und der Ankerplatz ist nicht unbedingt ruhig zu nennen€¦
Nebenbei erhielten wir auf der Tour auch eine kleine Inselkunde für das hier und heute: Robert berichtete über die Sisalproduktion (in der er gearbeitet hat), über die Bedeutung der Insel als Funkrelaisstation, über die Insel Ascension etc. , und wir bekamen den neuen Airport gezeigt. Was für ein Drama€¦ 4 Jahre wurden hier ganze Berge verschoben, um irgendwie im Südosten der Insel eine plane Fläche zu schaffen, auf der große Verkehrsflugzeuge landen können, und als es jetzt so weit war, stellt man fest, dass die Scherwinde so stark sind, dass den Piloten wahrscheinlich der Angstschweiß schon beim Abflug Richtung St. Helena auf der Stirn steht. Man gibt sich aber hoffnungsfroh, dass sich eine Lösung findet. Touristenverkehr mit kleineren Maschinen, möglicherweise ab Walvis Bay in Namibia. Und ganz pragmatisch: eine Frau meinte, dass die Möglichkeit, Medivac-Flüge zu bestreiten, schon die Geldausgabe wert sei. „Money well spent!“.
Der ganz große Touristenstrom wird allerdings zunächst ausbleiben. St. Helena ist wie immer: abhängig vom Fahrplan des Royal Mail Ship ST. HELENA, das nun weiter ackern muss. Nächste Woche kommt sie, und dann gibt es mal wieder Kartoffeln. Und Zwiebeln! Ich war wahrscheinlich nicht die letzte, die auf dem Gang durch den Ort angesprochen wurde: „€¦ where did you get the banana?“ Sieht so aus, als bliebe das Prinzip „kauf das Gemüse, wenn es welches gibt!“ noch eine Weile erhalten. Und heute war Möhrentag. Every Thursday! Das Leben im Nichts!