Eis und Berge und Schokolade

Puerto Madryn, 14.12.2016

Ushuaia ist abgearbeitet, wir wenden uns vom Beaglekanal ab. Fragt sich: wie? Wir wollen die Andenkette wieder nordwärts reisen, aber obwohl manche sagen, wir hätten alle Zeit der Welt, ist dem doch nicht so. Vor u s liegen 18 Stunden Bus nach El Calafate, wir wollen Eis sehen, und es ist der 28. November. Ticketkauf! Ticketkauf? Nein, nicht heute, heute ist der Dia de la Soberanà­a. Toll, und so ganz leicht lässt sich über die gewünschte Strecke auch online nichts ergründen – immerhin eine Fahrt mit Länderwechsel, schließlich sitzen die Argentinos nur auf der einen Hälfte von Feuerland, also führt kein Weg hinaus ohne noch einmal nach Chile ein- und wieder auszureisen. Tröstlich Auskunft: nach der Siesta werden manche Büros heute besetzt. Na, dann… Um 17:00 fallen wir im Büro von Tolkeyen  ein. Nö, wir verkaufen keine Bustickets mehr… aber fliegen können Sie mit uns! Fliegen!? Irgendwie uncool, aber so praktisch… und tatsächlich nur unwesentlich teurer als der Bus, nach 2 1/2 Stunden wäre man am Lago Argentino… wir fliegen. Miguel bringt uns am nächsten Mittag  zum Flugplatz. Wir hätten gern noch ein bisschen mehr zur Geschichte von Feuerland und den politischen Querelen mit den Chilenen gehört oder über seine alte Heimat Misiones, die ja noch auf unserem Programm steht, aber Aerolineas wartet nicht. Nein, sie startet pünktlich, es ist prima Sonnenwetter, bisschen windig vielleicht, wie das hier unten so ist. Ob DAS immer so ist mit der Fliegerei in Ushuaia? Die Start- und Landebahn kennen wir ja, da unten in den Beaglekanal gebaut. Gewöhnlicherweise startet man nach Westen, heute auch, und und dreht eine Schleife über die Isla Navarino (ciao, Puerto Williams!) und dann nordwärts. Alles normal – bis auf die quiekenden Mitreisenden, eine Schipperin, die sich sagt: „… das müssen die abkönnen -diese Airbusse sind dafür gemacht – keep cool, sitz‘ ENTSPANNT!“ Blickkontakt zum Sitznachbarn zur Rechten: er verdreht die Augen. Vor mir reicht eine Dame über den Gang hinweg ihrem Mann die Hand, der sie fest drückt – ein letzter Gruß? Ich schau‘ nach links, auch wenn mir der Blick auf diese wippende Tragfläche nicht recht taugt. „Interessant!“ lässt sich mein Reisebegleiter vernehmen und gibt später zu, dass wir derartige Turbulenzen in unserem doch langen Fluggastleben noch nicht erlebt haben. Glücklicherweise war das Vergnügen nach vielleicht 10 sehr langen Minuten vorbei. Erst mal die feuchten Handflächen abwischen und dann auf die Anden schauen, die uns im Westen in die Fenster blinken. Schön!

In El Calafate trifft uns erneut der Touristenhammer. Eine Reihung von Schoko-Läden, Outdoorausrüstern, Restaurants und Touranbietern. Als Glück stellt sich heraus, dass wir am Empfang im Hostel gleich für eine „alternative“ Tour zum Perrito Moreno-Gletscher gekeilt werden, manchmal ist so etwas ja doof und aufdringlich, aber hier klingt es angenehm: eine Busfahrt über die Hinterstraßen zum Gletscher, der 80 km entfernt liegt. Die anderen Busse fahren alle am Lago Argentino entlang, wir bekommen stattdessen von Francisco, der uns am nächsten früh abholt, einen Aspekt von Patagonien vorgeführt, den man sonst nicht wahrnimmt: die endlose Weite der Halbwüste, die sich vom Andenrand bis zum Hunderte von Kilometern entfenten Atlantik erstreckt. Estancias, die über viele Hundert Quadratkilometer Fläche verfügen, weil sich anders Schafzucht gar nicht lohnen würde. Die Estancia Anita, die im Gauchoaufstand der Zwanzigerjahre eine sehr unrühmliche Rolle spielte, weil von hier das Militär ausgesendet wurde, das den Forderungen der Gauchos nach gerechter Entlohnung und menschlicher Behandlung ein blutiges Ende setzte. Eine kleine Gedenkstätte erinnert an die vielen europäischstämmigen Arbeiter – Deutsche, Italiener, Jugoslawen vor allem,  die hier den Ranchbesitzern zu rechtem Reichtum verholfen haben. Ein hartes Leben. Kurz vor Erreichen des Brazo Rico, einem Nebenarm des Lago Argentino gibt es eine Kaffeepause mit einem Ausblick auf und Erklärungen zur Ökologie dieser Landschaft. In der Ferne die dramatischen Eisgipfel der Anden, davor ein schmaler, bewaldeter Streifen, denn zu mehr Wald reichen die Niederschläge nicht, die auf der Ostseite der Anden noch niedergehen. Die Bewaldung ist ausschließlich Südbuche, im Gegensatz zu unserer alpinen Vegetation koniferen- und damit tanninfrei, was wieder die Wasserqualität  beeinflusst. Die dünne Humusschicht hatte ich ja schon mal erwähnt – aber dass die Notofaguswurzeln ein so enges Geflecht bilden, dass so gut wie nichts ausgespült wird, wurde mir erst hier klar. Es ist eine völlig verrückte Gegend: im Westen der Anden so unwirtlich und dünn besiedelt, weil es so grenzenlos nass ist und es keinen beackerbaren Boden gibt, im Osten der Berge, selbst völlig abweisend und lebensfeindlich, nur dieser schmale Vegetationsstreifen bis es wieder ins Unwirtliche verfällt, nur eben absolut trocken. Kein Wunder, dass bis in die späten Jahre des 19. Jahrhunderts niemand wirklich an Patagonien interessiert war, im Gegenteil, man hatte den paar Bewohnern sogar die Autonomie zuerkannt. Und dann der Entwicklungsklassiker: eine Landschaft, die von wenigen Ureinwohnern mehr oder weniger nomadisch bewohnt wird, weil die Natur einfach nicht mehr hergibt, wird Grundlage für großfĺächige Extensivlandwirtschaft. Siehe Australien. Wie dort haben die Tehuelche, die Mapuche, die Selknam den Kürzeren gezogen.

Zurück zur Natur -zum Gletscher selbst. Wir sind sprachlos – dieses kalbende Ungetüm! Es dauert eine Weile, bis man drauf hat, dass man zuerst die Eisbrocken sich lösen sieht und danach erst das Krachen hört. Geduld ist gefragt, es gibt nicht alle naslang ein Kalb, aber es kalbt… Drei Dinge sind am Perito Moreno besonders, obwohl er nicht mal der größte Gletscher des südlich Eisfeldes ist. Erstens kommt man keinem anderen Gletscher in Flipflops und Muscle Shirt so nah wie diesem (bei schönem Wetter, wie wir es hatten, aber alle dürftig Bekleideten schleppen Schutz gegen patagonische Frostwinde mit). Zweitens ist der Perito Moreno einer von zwei verbliebenen Gletschern der Anden (von Tausenden!) die noch stabil sind, der andere ist der benachbarte Pio Onze – stabil heißt, dass sie abwechselnd vorrücken und zurückweichen; bis vor kurzem wurden sie noch als vorrückend geführt. Andere Gletscher der Region leiden unter dramatischem Rückgang, zum Beispiel der berühmte Upsala. Die dritte Besonderheit ist einzigartig: der Perito Moreno, der in den Lago Argentino fließt, blockiert bei der Halbinsel Magallanes, der Stelle, wo man ihm am nächsten kommt, in Phasen des Vorrückens die Verbindung zwischen dem Brazo Rico und dem Brazo de los Tempanos (dem Eisberg-Arm), und wenn der Stopfen nur lange genug geschlossen ist, manchmal Monate und Jahre, steigt der Pegel im Brazo Rico auf bis zu 11 m über den des Lago Argentino. Und dann weicht der Perito Moreno zurück… was passiert, nennt man die „ruptura“, die letzte im März 2016 hat Francisco beobachtet und war noch immer voller Bewunderung. Natürlich wollen die unterschiedlich hohe Wasserstände ausgeglichen werden, und das passiert mit Macht. Man kann das vielfach googeln, aber wer 15 Minuten Zeit hat, sollte sich die ruptura von 1988 ( https://m.youtube.com/watch?v=Dfl4DAtHkYQ ) anschauen – zwar ist das Intro auf Spanisch, aber während des Verlaufes werden  nur noch die Uhrzeiten genannt, also lohnt es sich, die Geduld aufzubringen. Ich finde das toll…
Wer nach El Calafate kommt, sollte übrigens einen Besuch im Glaciarium nicht auslassen – sehr anschaulich und informativ zu Geologie und Gletscherkunde!

Patagonia – 90% Halbwüste, ein bisschen Wald, viel Berge und Eis

Lago Argentino. Brazo de los Tempanos (Seitenarm der Eisberge)

Am Gletscher Perito Moreno. Einer von zwei „stabilen“ Gletschern

Anschlussprogramm: Fitzroy-Massiv. Tolle Busfahrt im Topdeck, 1. Reihe, und Wetterglück, die Anden geben ihr Bestes. El Chaltà¨n ist fest in Backpackerhand und bietet allerlei schöne, kürzere oder längere Wanderungen, von denen wir im Rahmen unserer Möglichkeiten genussvollen Gebrauch machen, mal im Nieselregen, malmbei Sonnenschein und mit dem leichten Bedauern, für ein Bad im Lago mangels Badeanzug nicht gerüstet zu sein. Ausdauernd lausche ich nach dem patagonischen Riesenspecht, und als ich gerade meine, einen fliegen zu sehen, höre ich was ganz anderes: “ … I need to get back to the hostel…“ Zwei Australierinnen durchschreiten diesen Wunderwald. Eine hat „alle Adressen im Smartfon gelöscht und hier oben ist keine Netzabdeckung!“ Ganz dumm gelaufen. Der Specht geht vor Entsetzen vor so viel Unglück in Deckung.

Unterwegs zum Fitzroy-Massiv. Doppeldeckerbus, 1. Reihe

… und da guckt er durch die Wolken, der Fitzroy!

Keine gesehen, aber schön gewandert. El Chaltén, Fitzroy

Wanderung am Fitzroy

Gstaad. Mitten in Argentinien

Als wir genug vom Wandern haben, der Eigner brütet pünktlich zum Geburtstag auch noch an einer Erkältung, besteigen wir etwas planlos einen Nachtbus nach Perito Moreno (der ein berühmter Naturforscher war und viele viele Orte, Straßen und eben auch einen Gletscher auf seiner Namenspatenliste hat!) auf halber Strecke nach Bariloche. Das lässt uns die Wahl, ob wir von dort nach Norden weiterreisen wollen oder gleich zur Küste abbiegen. Wir erwischen einen Bus voller junger Israelis, ein Gekakel wie auf einer Klassenreise. Eigentlich hält der Bus nicht in Perito Moreno, sondern ein paar Kilometer weiter in Los Antiguos, das ein beliebter Übergangsort nach Chile ist. Freundlicherweise werden wir um 05:30 in der Früh rausgekickt. Nur 4, 5 Blocks zum Busbahnhof! Wir laufen los. Solch ein argentinisches Landstädtchen ist auch erinnerungswürdig… Totenstille! Kein Mensch, kein Auto! Kein Busbahnhof! Als wir doch einn Frühaufsteher anhalten können,,weist der die schnurgerade Straße hinunter: “ bis zum Kreisel, da wo die Sträse nach Chile Chico abgeht!“ He, Busfahred, war das Schikane oder blöd? Egal. Wir trappeln mit dem Gepäck gern noch ein Kilometerchen oder zwei. Das Café in der örtlichen Tankstelle, wo auch das Busterminal ist, hat noch nicht geöffnet, aber wir gesellen uns zu weiteren Aspiranten, egal ob sie kaffedurstig sind oder ungeduldig auf heißes Wasser für ihren Maté warten. Ach ja.. auch der Busfahrplan ist nicht recht bekannt; so um 08:30 soll einer nach Bariloche gehen, und nachts einer nach commodore Rivadavia. Verkehrsbeobachtung ist nicht der Tankstellencrew liebste Beschäftigung. Und die Ticketbude macht erst um9 auf, wie soll das gehen? Alles zu frühr bemault – das Café macht zu aller Zufriedenheit ebenso auf wie unerwarteterweise der Busschalter. Wir kriegen ein Ticket für die Weiterfahrt nach Bariloche, denn der Akkanaut ist wieder fit wie ein Turnschuh. Und es kommen gleich zwei Busse, unserer hat zwar einen Radlagerschaden und verschwindet für ein halbes Stündchenzur Reparatur (getarnt als „Reinigungspause“), aber dann sinken wir ins Fauteuil. Cama Ejecutivo nach Bariloche. 12 Stundenspäter sind wir da.

Alles was Schweiz ist. Inklusive Berhnardiner

Bariloche = Schokolade

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