Eva, Isabel und andere

Und plötzlich ist es wieder Sommer! Palacio Barolo

Colonia del Sacramento/Uruguay, 25.12.2016

19 Stunden Cama-Bus von Puerto Madryn nach Buenos Aires, Endstation Retiro. Retiro ist einer der sozialen Brennpunkte in  Argentiniens Hauptstadt, und wirklich jeder Argentinienreisende hat eine Geschichte zur Kleinkriminalität hier beizusteuern. Gern erzählt, ungern erlebt: der Tourist wird angespuckt oder mit etwas Unappetitlichem beworfen oder bespritzt, ein freundlicher Helfer springt hinzu, um die Schweinerei zu beseitigen; ach, sind sie nett, die Portenos… Nur leider verschwindet während dieses Prozesses Handtasche, Rucksack, Hosentascheninhalt. Clever – und wir wussten’s ja, die Kassiopeias hatten drunter gelitten, die „Wanderer“ einen Rucksack „mit alles“ eingebüßt. Eine Engländerin im Hostel in El Calafate sagt: „… zweimal haben sie das mit mir versucht! Don’t make a fuss – just go!“ Also steigen wir aus, es gewittert, wir klemmen unsere Habseligkeiten an den Körper und suchen uns lieber ein Taxi. Nicht so einfach an diesem verwirrend großen Busterminal – zumindest da, wo die Schilder einen hinlocken, befinden sich keine. Nein, keine böse Absicht, nur vielleicht – schluderig?! An der Tankstelle nebenan aber, da holen die Taxis sich ihr Gas für die Weiterfahrt, und dort steht dann auch Fernando. Buenos Aires, die erste… Fernando ist sehr beleibt und springt auf „aleman“ sofort an: „Cheil Chitler“ ist der erste Gruß – Mann, wann hört das auf? Kulinarisch ist die Unterhaltung schon ansprechender: „…meine Mutter ist Uruguaya [ausgesprochen bitte „Uruguaischa“], und in meinem Heimatort gibt es die besten FRANKFURTER con chucrut.“ Er reibt sich die Wanne und kriegt sich gar nicht ein… Sauerkraut, das wäre ja mal was. Trotz der etwas missglückten Begrüßung eine kurzweilige Fahrt, wir bekommen auch noch einen kleinen Abriss über  „La Boca“ serviert, wo er aufgewachsen ist, mit einem Seitenhack auf die  Küche seines italienischen Vaters. Buenos Aires, wie es leibt und lebt. Be-leibt. Wir gleiten über die sonntäglich ruhige 9 de Julio, vorbei am Obelisk, voraus klebt Frau Perón an einem Hochhaus, aber vorher tauchen wir nach rechts in die Avenida Rivadavia ab. Wir wohnen mitten in der Stadt, nur wenige Hundert Meter vom Nationalkongress. Schäbige, heruntergekommene Belle-Epoque-Häuser, der Bürgersteig braucht auch liebevolle Zuwendung, will sagen: wir haben nicht im Lotto gewonnen und können uns nun Innenstadtlage leisten, sondern im Gegenteil, hier ist billig wohnen – so ziemlich das günstigste Hostel auf dieser ganzen – insgesamt sauteuren! –  Reise. Backpackerhotel La Parada nimmt uns auf und gibt uns ein Zimmer im 3. Stock – Fenster zur „Parada“, der Bushaltestelle auf der Talcahuano. Ah! Daher der Name; der Schall fängt sich in der Häuserschlucht. Bremsenquietschen, Türöffnen, Schließen, Anfahren. Ganz gutes

Buenos Aires. Mittendrin.

Zimmer, geräumig und mit eigenem Bad. Küchenbenutzung inklusive, allerdings bringt man tunlichst das eigene Besteck mit, und die Pötte in diesen Hostels – was machen Backpacker eigentlich damit? Nicht nur, dass die meisten verkohlt sind, ihnen fehlen auch gern die Topfstiele und fast alle sehen aus als seien sie für Jamsessions als Perscussioninstrument benutzt. Oder… für des Argentiniers liebstes Hobby? Topfschlagen auf Demonstrationen? Ganz gleich, für unser Hostelküchenkochen reicht es allemal. Wir sind zufrieden, und die Suche nach einem Kaffeehaus – es ist Sonntag und recht viel „Ruhetag“! – führt uns gleich durch viele interessante Altstadtstraßen. Buenos Aires – faszinierend!

Mafalda, die Schlaue!

Programmpunkt Nummer eins: die Grande Dame dieser Stadt, und das ist Mafalda! Na gut, eher petite fille dieser Stadt, aber clever. Eine Comicfigur mit schlauen Sprüchen à  la: „Guck mal, ist der nicht schön, dieser Globus?! Und warum ist der schön? Weil er ein Modell ist – das Original ist eine Katastrophe…“ In San Telmo gibt es eine ganze Straße, an Figuren aus den argentinischen Comics Spalier stehen, und die Bank, auf der Mafalda sitzt, ist eigentlich immer mit Selfie-Schießern besetzt. Mir gefällt’s.

Als wir in den 80ern hier waren, haben wir eigentlich, von einer Stadtrundfahrt mit den Mechanikern vor der Rallye abgesehen, nichts gesehen, also laufen wir uns dieses Mal die Füße wund. Schickes neues Hafenviertel, Straßencafé am Teatro Colón, Geschäftsrummel, lautstarke politische Demonstrationen, Verfallendes und Schickimicki-Viertel mit Designerkram. Wir werden Stammkunde beim Carrefour an der Ecke – die Preise für Restaurantessen sind gepfeffert, und obwohl es mittlerweile durchaus ein bisschen Salat oder Gemüse gibt, reicht uns das nicht. Nur die Fleischportionen sind günstig, dafür kaum zu bewältigen. Merkwürdig. Und sowieso: Abendessen ab 21:30, und das ist noch früh…
Das Straßenbild hat sich auch geändert, der Verkehr ist zwar dichter geworden, aber weniger chaotisch, was wir auch schon in Brasilien beobachtet haben – keine 15 Spuren mehr in eine Richtung, von denen die inneren 5 abbiegen dürfen, und es auch tun, oder nicht. Damals war’s. Noch etwas fehlt im Straßenbild – die schöne, alte Herrenfrisur mit den pomadigen Locken im Nacken. Auch die älteren Herren sind zu  kürzeren Haarschnitten übergegangen – und bei den jüngeren geht der Trend zum Hipster. Schöne globalisierte Welt. Mafalda wüsste sicher was dazu zu sagen…

Die aktuelle politische Situation

Wir entschließen uns zu einem geführten Spaziergang durch die Stadt, und obwohl uns die Menge der auflaufenden Touristen ein bisschen schreckt, stellt sich die Veranstaltung als Gewinn heraus – mein Hang zu geführten Touren nimmt zu, man kriegt so einiges mehr mit. Auch heute, mit Juan… eigentlich ist es nur ein kurzes Stück vom Nationalkongress zur Casa Rosada, dem Präsidentenpalast an der Plaza de Mayo – aber wir brauchen 3 Stunden dafür. Die Führer der Free Walks Buenos

Demos, täglich neu

Aires bieten entlang der vorgeschlagenen Strecke jeweils ein eigenes Programm und eigene Einsichten in die Geschichte der Stadt und Argentiniens, also nichts Auswendiggelerntes. Juan behält sich gleich vor, dass er die Strecke ändern muss – wenn wir kurz vor einer Demo zur Casa Rosada einbiegen würden, verstünde man sein eigenes Wort nicht mehr. Und dann enthüllt er witzige Details – warum zum Beispiel die barbusigen Damen vor dem Parlament so alabasterweiß strahlen, während das Parlamentsgebäude so grau und verwittert daherkommt? Weil einer der Präsidenten des angehenden 20. Jahrhunderts nicht ertragen konnte, dass Freiheit, Wohlstand und Gerechtigkeit derartig freizügig dargestellt wurden – also weg damit! 100 Jahre waren sie verbannt und wurden erst kürzlich wieder frisch, weiß und barbrüstig auf ihr Podest

Café Tortoni. Alte Pracht

gestellt. Der Barolo-Palast, Bürogebäude, Hotel, Mausoleum und Leuchtturm in einem und ehemals Buenos Aires höchstes Gebäude. Argentinien war von 1880 bis zur Weltwirtschaftskrise ein sehr reiches Land, das zeigen die prächtigen Bürgerhäuser entlang der Avenida de Mayo, mittendrin ein Graffito zur aktuellen politischen Situation, in der der neue Präsident Macri in den Fängen internationaler Konzerngeier dargestellt wird. Eine Kathedrale ohne Türme – die Kathedrale des derzeitigen Papstes – im Stil eines griechischen Tempels, mit ägyptischer Mythologie verziert, als katholisches Gotteshaus fast nicht zu erkennen. In der Nähe steht auch das letzte koloniale Gebäude, das die Bau- und Abrisswut des ausgehenden 19. Jahrhunderts – und die Wut der Argentinier auf die spanischen Kolonialherren! – übrig ließ. Die Plaza de Mayo und die Geschichte um die Mütter und mittlerweile Großmütter der

Evita isst (k)einen Hamburger

Plaza de Mayo… und natürlich immer mal Einblick in den Peronismus samt Evita-Story, sehr anschaulich und amüsant bis erschreckend anzuhören. Eine Frauenfigur zwischen Heiliger und Polithexe. Zum Abschluss eine Vorführung der gültigen argentinischen Geldscheine – die alten, mit den Präsidenten und Befreiern, dann die Serie der Cristina Kirchner, Zitat: „… Ihr hättet mal das Gesicht meines Vaters sehen sollen, als da Evita Peron auf dem 100er auftauchte…“. Der aktuellste 50er im Umlauf zeigt übrigens die Islas Malvinas, auch bekannt als Falklandinseln – auch hier hatte Juan Sarkastisches zu bemerken; so ganz einhellig ist die Meinung zur Zugehörigkeit der Malvinen zu Argentinien vielleicht doch nicht… Herr Macri jedenfalls bemüht sich, Kirchner-Spuren zu verwischen, nicht nur bei den Geldscheinen, aber auch dabei sind die neuen neutraler gehalten. Wale, Jaguare, das sollte von Dauer sein.

Weil es uns auf diesem Spaziergang so gut gefiel, gelangte noch ein „Free Walk“ auf das Programm. Wir waren 1986 zwar schon einmal auf dem Friedhof der Recoleta gewesen, aber die Erinnerung war eher schwach, bis auf die Mengen an Blumen, die an Eva Duarte de Peróns Grabmal abgelegt waren. Dieses Mal war Francisco der Guide – und der führte uns seine Lieblingsgräber vor mit allerlei traurigen, schaurigen, lustigen Geschichten.

Schaurig. Rufina Cambaceres.

Schaurig: das junge Mädchen, das nach einem katatonischen Schock bestattet wurde und nach Tagen versuchte, ihrem Sarg zu entkommen – sie hat die Versuche nicht überlebt, was eine Flut von modernen Särgen hervorrief, die man von innen öffnen konnte. Im gleichen Zusammenhang das Beispiel des englischstämmigen Ingenieurs, der nun solche Angst davor hatte, bei lebendigem Leib bestattet zu werden, dass er ein ausgefeiltes Sicherheitssystem ersann – nicht nur das Öffnen des Sarges von innen, sondern auch Öffnen der Türen des Mausoleums war möglich, und er testete die Funktion alljährlich an seinem Geburtstag. 14mal tat er das. Beim 15. Versuch kam er nicht wieder heraus, er war allerdings auch hineingetragen worden, aller Wahrscheinlichkeit nach nicht lebend, but… who knows? Dann ein fantastischer, sehr unterhaltsamer Vortrag zu peronistischer Politik, dem Leben und Treiben Peróns und seiner Gattinnen; der zig Tausend km lange Weg der Leiche Evitas vom Sterbeort zur Familiengruft (die nur wenige 100 m voneinander entfernt liegen. Perón hatte seine Frau einbalsamieren lassen in der Absicht, sie auf Dauer zur Schau zustellen. Was man zum Machterhalt so tut, aber es half nicht, im Gegenteil, Evita wurde entführt und blieb für 17 Jahre in Mailand unter falschem Namen bestattet. Viele solche faszinierende Geschichten gab es bis hin zu ihrer Nachfolgerin Isabel, die zwar Evitas Beliebtheit nicht erreichte, es aber bis zur Präsidentin schaffte – wirklich lustig war davon das Wenigste. Der viele Hass, der Eva Perón noch heute entgegenströmt steht in farbigem Kontrast zu den vielen Sympathiebezeugungen, den stets neuen Blumen am Tor des Grabmals, den „Santa Evita“-Heiligenbildchen – sehr interessant und so bitter wie spaßig: es versammelten sich um unsere Gruppe diverse amüsiert zuhörende Argentinier.

Dann lieber amüsant: Ein Grabmal, zwei Blickrichtungen.

Dann wieder Prachtbauten, Verfallendes, Gräber „for sale“- wer auf sich hält, lässt sich noch heute hier bestatten, und insgeamt liegen hier über 5.000 Leichname auf diesem beengten Friedhof – die meisten Gräber haben unterirdisch mehrere Stockwerke. Nicht vergessen möchte ich das Mausoleum der de Carrils… Frühes 20. Jahrhundert. Muttern war shoppingsüchtig und gab so viel Geld aus, dass Sr. de Carril, seines Zeichens Vizepräsident der Republik,  eine ganzseitige Anzeige in die Zeitung stellte, er sei bereit, alle anstehenden Schulden zu begleichen, aber für weitere käme er nicht mehr auf. Das tat der Ehe nicht wirklich gut. Als er starb, äußerte Sra. de Carril wenig Bedauern, sondern wollte wissen, wie viel Geld übrig sei, und es erwies sich als genug, um sich einen sehr schönen Lebensabend zu machen und zum Schluss ein gemeinsames Grabmal für die Eheleute bauen zu lassen – prächtig, prächtig. Obendrauf sitzen sie beide – und schauen in entgegengesetzte Richtungen. Ein wirklich herzliches Verhältnis…

Und das war‘ aus Buenos Aires.
Ach ja, und noch ein Schnack von Mafalda… „Wie wird das kommende Jahr sein?“ „Oh“ sagt Mafalda „… mutig muss es sein, denn es kommt ja, obwohl die Dinge so sind wie sie sind…“

Stimmt, Mafalda!

Weihnachtsgrüße aus Uruguay!

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