Rote Hemden

Porlamar, 29.9.2009

Das Wochenende war ziemlich friedlich, und Internet gab es auch ausreichend – wie nett von den Präsidenten. Während Ihr da drüben gewählt habt (man kann Euch schlicht nicht alleine lassen!), wurde hier die neue Südamerikanische Bank gegründet. Und sicher auch ein bisschen über Afrika geredet. Präsidenten weg, und nun?! Powercut. Kein Internet – wer sagt€™s denn. Es muss daran liegen, dass wir gestern beide in roten Hemden in der Stadt waren: Der Dollar fällt, drum verbraucht sich der eingetauschte Bolà­var auch schnell, und weil wir ja schon Vorräte für ein paar Inselwochen kaufen, muss ein neues Päckchen Bolivares geholt werden. Gemeinsam mit den BAJUs; Taxifahren, domm Tüüch reden, Saft trinken, das übliche Porlamar-Programm. Das übliche Venezuela-Programm, und das enthält ja auch immer die einschlägigen Photos – hier: zwei deutsche Abiturientinnen (siehe Blog „Harmlos“!) vor der „Auslage“ im Doppelsinn des Wortes, übrigens ein stinknormales Konfektionslädchen. Die Männer freut€™s.

Zwei deutsche Abiturientinnen und eine venezolanische...

Zwei deutsche Abiturientinnen und eine venezolanische...

Während Heike und Stefan danach auf Epoxi-Kauf-Expedtition gehen, spazieren wir zunächst unbefangen durch Porlamar, stehen am Zaun zur alten Befestigung zum Meer, durch den uns Soldaten anschauen und uns unaufgefordert einen eindeutigen Richtungshinweis geben: Rote Hemden, bitte rechts €¦ Hä?! Wir haben doch nicht mal nach dem Weg gefragt. Wir spazieren weiter, bis sie uns immer öfter entgegenkommen: Chavez-Mützen, rote T-Shirts, Plakate: „Hugo y Ibraà­n – un gobierno por el pueblo!“ und andere Sympathiebekundungen. Mittlerweile steht der Verkehr auf der Uferstraße, Busfahrer hauen sich verzweifelt an die Stirn, weil die vermeintliche Stauumgehung genau da landet, wo sie nicht hinwollten: im Stau. Wir geben der Sogwirkung nach – rote Hemden zu roten Hemden. Busseweise werden sie ausgespuckt, und wer noch nicht das passende Outfit trägt, kann sich vom Straßenstand rasch versorgen: Camouflage-Mütze, Ché-T-Shirt, venezuelafarbener Schlapphut mit Politparole. Die Menschenmenge besteht, das lässt sich leicht an der bestickten Kleidung ablesen, aus Bediensteten der Alcaldà­a, dem Zoll oder anderen (zwangsverpflichteten?!) Staatsdienern sowie viel begeisterter Landbevölkerung.

Unter Rothemden

Unter Rothemden

Am Tor vor der Stadtverwaltung heißt uns der alte Herr mit dem „Ministerio de Sciencias“-Hemd (rot! Was sonst€¦) strahlend willkommen (rote Hemden!) und sagt gemessen: „El commandante! El senor presidente Hugo Chavez€¦“ Kommt her um mit dem Volk zu sprechen. Prima! Wann?! „à€ las 5, 6€¦“ Uns ist trotz roter Hemden mehr nach einem Kaffee und schon gar nicht nach endlosem in der Sonne braten – 3 Stündchen werden wohl noch vergehen, ehe es soweit ist. Nö. Wir verzichten. Hopp auf den Bus zum SAMBIL-Einkaufszentrum; Lokalkoloritfahrt mit hochzivilisierter Endstation. Es lockt der Milchkaffee „Grande“ aus dem Plastikbecher. Und Erdbeertörtchen. à€ propos „grande“ – wir sind in Südamerika, dem Kontinent der klitzekleinen Kaffeeportionen, da ist ein Café Grande leicht zu bewerkstelligen; alles jenseits der Fingerhutgröße ist „grande“ . Überhaupt Kaffee: Wird produziert in Venezuela; derzeit leider nur enkoffeinierter Columbiakaffee im Handel. Dass wir vor lauter Begeisterung – Stefan „BAJU“ hatte vor Wochen die Parole ausgegeben „€¦ wer immer Café Madrid sieht: MITBRINGEN!“ – letzte Woche lächerliche zwei Päckchen von eben jenem venezolanischen Kaffee (gut und billig!) einsacken und der BAJU eines gnädig überlassen, war ein bisschen blauäugig, zumindest die Einschätzung, dass ja nun die Regale damit wieder gefüllt seien. Schon 24 Stunden später heißt es: „…gähnende Leere!“, und gestern schon wieder alles voll mit€¦ entkoffeiniertem Colombia-Kaffee. Somos paà­ses hermanos. Hat er gesagt, der Hugo. Bruderländer. Diplomatische Beziehungen sind zwar noch nicht wieder aufgenommen, aber der Kaffee wird brüderlich geteilt, offensichtlich. Wir shoppen fröhlich Gemüsekonserven, Wurst und Käse für die kommende Zeit, sogar Gin findet den Weg in den Einkaufswagen, ein Liter-Fläschchen für 21 Bolis. 2,50 ‚¬ – wir verstehen die Engländer, die kürzlich mit 30 Flaschen und mehr durch die Kasse steuerten. Jahres-Ration, so wie unsere Flasche. Segler neigen ja zum Alkoholgenuss bis -exzess€¦

Jürgen Langbeins in Porlamar

Jürgen Langbeins in Porlamar

Unser Wagen ist dann auch voll, auch ohne deutsche Langbeinsuppen, der Taxifahrer fragt das Ziel ab. Ich schwinge mich auf den Beifahrersitz: „€¦ ist das Chavez da im Radio?! Hier in Porlamar?!“ Nein, nein, der ist in Caracas€¦ NEIN! Der ist hier! Oh, toll, und Ihr habt rote Hemden an€¦

Wir haben doch was verpasst: Chavez spricht augenscheinlich weniger mit als zum Volk und zum ebenfalls anwesenden „el colonel“ Muammar al-Gaddhafi, dessen „palabras“ aber die Fähigkeiten des Dolmetschers leicht übersteigen. Arabisches wird in einen spanischen Wortwust übertragen, gespickt mit „revolucià³n“ und „antiimperialismo“ – ich denke schon, dass nicht nur ich mir keinen Reim auf die Übersetzung machen konnte. Danach aber produziert unter dem Jubel der lokalen Menge „el commandante – el senor presidente “ wunderbares Pathos – Kinder und Frauen und Helden werden vielfach gelobt und Hugo gießt reichlich alten Wein in neue Schläuche: „Viva la revolucà­on – Viva el socialismo nuevo! Viva la lucha antiimperialista -viva el socialismo sudamericano!“ Ob es dem Taxifahrer gefällt, haben wir vorsichtshalber nicht abgefragt. Aber er freut sich anhaltend – über unsere roten Hemden. Na denn€¦

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