Intuition gegen Mathematik

Fakarava, 26.7.2010

Es war ja versprochen: das neue Wochenrätsel. Ein bisschen peinlich, dass wir das hier unten im Pazifik immer noch nicht begriffen haben. Wir hoffen allerdings, dass die versammelten Schlauberger, zum Beispiel unsere frisch gebackenen Yachtmaster von der VIGO, vielleicht einen Hinweis, eine Lösung oder wenigstens einen Literaturtipp für uns haben könnten. Unsere Funkrunde sagt eher Sachen wie: „… ach, das muss ich gar nicht so genau wissen …“

Genug der Vorrede: Es ging um Tidennavigation, besser noch: Tidentheorie. Aufgabenstellung (für die Lösung haben wir eine EINS gekriegt!): Pass Süd Fakarava so zu treffen, dass einen weder die Flut mit 8 Knoten ins Atoll zieht, noch die Wind-gegen-Strom-Brecher vor dem Pass einen an der Einfahrt hindern; wir wussten ja, noch halb in den Marquesas, nicht, dass Fakarava Süd nicht nur auf dem Papier, sondern auch in Wirklichkeit perfekt betonnt, nicht so grauenhaft eng und insgesamt easy-peasy ist.
Als Ostseesegler hat man von Tidennavigation nur einen fernen Dunst, bis man in Brunsbüttel aus der Schleuse guckt, bei AKKA hieß das: Learning by doing. Zur Bewältigung des Problems hat man außer der persönlichen Erfahrung verschiedene Hilfsmittel: Tidentabellen, in unserem speziellen Fall die „Tide Tables 2010, Central and Western Pacific and Indian Ocean“ und diverses elektronisches Rüstzeug, kleine Tidenprogramme wie „WXTide“, leider kein „Total Tide“ (das steht auf der Ausrüstungsliste, falls es sich denn im Vergleich als wirklich fähiger erweist), und last but not least der Kartenplotter mit der Datenquelle von Navionics; und mit all dem sind wir ja auch weit gekommen. Die BR- und BK-Scheininhaber werden sich erinnern, dass man in die Tidentabellen geht, sich die Zeiten und Höhen von einem „Bezugsort“ oder Standard Port sucht, den eigenen Ort über eine – sehr fein gestaffelte – Liste der Anschlussorte sucht, alle paar Meilen einer, und daraus eigentlich minutengenau den jeweiligen Wasserstand ermitteln kann. Jedenfalls ist das so in der Nordsee und angrenzenden Ozeanen, à la „Harlesiel, Buhne A“. UNSER Standard Port ist Apia/Samoa, 1.500 Seemeilen entfernt, und der nächst gelegene Anschlussort ist das Atoll Rangiroa, 150 Meilen, der nächstweitere schon 300 Meilen nach Osten. Da heißt es „interpolieren“… und dann sieht man plötzlich, dass die Angaben der einzelnen Quellen weit auseinander gehen, das Atoll Ahé aus der Reihe der Tidendaten völlig herausfällt! Kann das sein – ist da was falsch?! Wann ist denn nun Hochwasser in Fakarava? So verfielen wir in tagelanges Grübeln über die schiere Theorie, Fliehkräfte, Gravitation, Systemschwerpunkt; von wo nach wo die Tide läuft, was die lokalen Unterschiede erzeugt, was der Mond denn nun wirklich damit zu tun hat. Und WikiTaxi fasst das in einem schönen Satz zusammen: „… somit erklären sich die Gezeiten allein durch die Kombination von inhomogenem Mondgravitationsfeld und konstanter Fliehkraft durch Revolution um den Systemschwerpunkt…“ Wir machen die Fragezeichen dazu…

Glücklicher- wie tröstlicherweise stand in einem der Cruising Guides für den Pazifik, dass es wenigen Leuten bekannt sei, dass man den Zeitpunkt des Stillwassers – also unseren idealen Einfahrtpunkt in Fakarava – ermitteln kann, indem man dem Monduntergangs- bzw. Mondaufgangszeitpunkt feststellt, und dann heißt es: Slack Water 4 Stunden vor Mondaufgang (oder auch nur eine!), dann einlaufendes Wasser, 5 Stunden nach Mondaufgang Slack Water und ablaufendes Wasser usf. Wie man sieht, gibt es auch dafür 2 ziemlich unterschiedliche Rechenmodelle. Aber ein bisschen Spaß muss bekanntlich sein, und es sind ja nur 2 Modelle.
Und: Wir waren absolut pünktlich, die Einfahrt ein Kinderspiel.

Und heute? GANZ was Neues: Ermittlung Stillwasser im Pass Fakarava Süd! Wir wollen mit dem Dinghy raus, uns ins Wasser fallen lassen und mit der einlaufenden Flut an der Riffkante entlangschnorcheln. Und sitzen schon wieder über dem WIKITAXI und Tidentabellen, dieses mal wegen der Tidenverspätung. Warum tritt manchmal die Flut mal nur eine halbe Stunde verspätet auf und dann wieder die planmäßigen 55 Minuten – na klar, Nippzeit und Springzeit sind die Stichworte. Aber jetzt können wir einfach ins Wasser gucken, Empirik heißt so was.
Unser Schnorcheltour war toll, und wir waren schon wieder pünktlich. Morgen machen wir das Gleiche noch einmal, es ist einfach zu schön, Korallen, Haie, bunte Fische. Und Annabelle, die seit vielen Jahren am Pass die Tauchstationsidylle TETAMANU betreibt (ob das zu finden ist bei Google!?) sagt auf Befragen zum Wochenrätsel: „Attend!“ und nimmt die Finger: „Un, deux, trois… à 16 heures!“. Von wegen Tidenverspätung und Mond und Gravitation und Rechenmodelle…
Genau wie WikiTaxi sagt: Intuition vor Mathematik!