Winterdeckenalarm

Deltaville, 21.9.2020

… der Sommer ist vergangen, ich seh‘ des Herbstes Schein. 

Oh je, es ist kalt geworden in den letzten Tagen, und daran ändert auch die Aussicht auf ein paar warme Tage in dieser Woche wenig. 24 Grad sind ja auch nicht wirklich viel. Der Swimmingpool hat, nachdem ich am Freitag ein letztes Mal plantschen war, seit gestern geschlossen, und es tut bei diesen Temperaturen nicht mal wirklich weh. Am Mittwoch kam Hurrikan „Sally“ von achtern durch, brachte bei noch warmen Temperaturen tagelangen Regen und ließ dann die Tür nach Norden offen. Brr. Und so erwischt mich gestern der Wunsch, möglichst bald in wärmere Gefilde aufzubrechen. Ein sehr frommer Wunsch… bis der in Erfüllung geht, hören wir wärmende Musik (ich habe zum Jahrestag von Hurrikan Maria ein schönes Remix von Lin-Manuel Mirandas Puerto Rico Song  entdeckt. Das wärmt in der Tat!). 

Dass Sally hier war und zeitgleich Maria-Jahrestag (daher der Puerto Rico-Song) 2017, wirft ein Licht auf die recht wirbelige Saison im Atlantik – hatten wir voriges Jahr gerade mal D wie Dorian durchgewinkt, ist den Wetterfröschen in diesem Jahr schon das Alphabet ausgegangen, als Ersatz dient das griechische… Beta steht gerade im Golf von Mexiko, aber nun darf sich das Geschehen gern beruhigen. Wäre in unserem Sinne.

Wir haben mittlerweile einen Entspannungsausflug (Entspannung vom Dauerbastelurlaub) hinter uns gebracht: Am letzten Montagmorgen hurtig mit dem (Leih)Auto nach Baltimore. Erstens brauchen wir ein neues Cruising Permit für die USA, zweitens hatten wir vor Kurzem mal die Haube vom Kompass genommen… huch? Was’n das für eine Luftblase? Kennen wir doch… anno 10, Tonga-Neuseeland. Wenn es kühl wird, zieht sich Dämpfungsflüssigkeit zusammen. Dann ist die gealterte Ausgleichsmembrane gefordert, und wie das so mit älteren Herrschaften ist – alles nicht mehr so elastisch… Inkontinenz nennt man das wohl. Also auf zum Kompassservice.

War schön, Donald T.’s „rat infested shithole“ zu besuchen. Es sieht tatsächlich schwer nach industriellem Niedergang aus, oder nach Niedergang der Schwerindustrie, und Brian, unser Mr. Kompass, warnte auch, den inneren Stadtbezirk nicht zu verlassen, denn das möge durchaus gefährlich sein. Auf der Suche nach einem fußläufigen Supermarkt (witzig, witzig, die Idee. This is the USA… wir sind im Endeffekt im CVS Drugstore gelandet) kamen uns dann am Abend auch folgerichtig Zweifel. Das Hotel übrigens weitgehend leer, schicke Suite im 11. Stock, Frühstück „americano“, bah. Dafür alles prima mit Maske, was die Schipperin beim Abholen der Frühstückstüte erst merkt, als sie nackt an der Rezeption steht. Mund-Nasen-nackt, versteht sich. Als Boatyardanwohner ist man da nicht so in Übung, aber der Mensch braucht Lehrstücke. 

Während wir also auf die Füllung und Reparatur unseres Kompasses warten, ist Gelegenheit, die Sache mit dem Cruising Permit in Angriff zu nehmen, und Customs and Border Protection ist eines unserer Lieblingsstücke im Bürospiel. Das schöne, alte Zollhaus ist gleich ums Eck. Prächtig. Viel dunkles Holz, Stuckdecken, ein bisschen Gold, dazu lächeln Trump/Pence vom Sims. Prächtig leer allerdings. Room 120.  Die lange Reihe der Schalterfenster ist mit einer Dame im Hintergrund besetzt, die uns ostentativ den Rücken zukehrt. Schließlich tritt ein sehr freundlicher, zivil gewandeter Herr auf. „Well“, sagt er, „… das ist schon das richtige Haus“. Oder bis vor Kurzem sei es das gewesen, die Schifffahrtssektion sei aber zum Flughafen umgezogen. Ja, logisch. Hafen=Flughafen. Hätten wir uns denken können. Wir werden mit einer Ortsanweisung gebrieft und bekommen gleich noch ein „… ich weiß auch nicht, wann und wie dieser Mist hier ein Ende nimmt“ hinterhergerufen – war das jetzt regierungskritisch? Der Officer jedenfalls hat Heimweh nach München. Ach, wie war es doch vordem in der Army so bequem: Würstel und Bier statt Institutionenabbau. Nett. Und desillusionierend.
Zweiter Akt. Auto aus dem Valet Parking abrufen (Premiere für uns! Valet Parking, also „Autoschlüssel lässig dem Portier zuwerfen“, hatten wir noch nicht). Raus zu Washingtons drittem Flughafen, übrigens mit Namen Thurgood Marshall, seines Zeichens wichtiger Supreme Court Chefrichter – ich hoffe, die gerade verstorbene Rechtsikone RBG, The Notorious Ruth Bader Ginsburg, kriegt einen Weltraumbahnhof! Der Flughafen ist ein bisschen schockierend – schon in der Annäherung sehen wir völlig leere Parkplätze und drinnen… applaudieren wir jedem Reisenden, den wir treffen, einzeln. Nichts, aber wirklich nichts los, und das liegt nicht an der Mittagszeit. Freund Jochen beschreibt den Flughafen aus dem vorigen Jahr als „brummend“, während hier derzeit nur die Klimaanlagen brummen. Das CBP-Büro zu finden ist mittelschwierig, unter Missachtung von „kein Zutritt“-Schildern windet sich ein schmaler, dunkler Gang durch das fensterlose erste Untergeschoss, macht einen Knick und endet an einem Zwei-Fenster-Schalter. Kein Stuck, keine dickes Holz, kein Gold, dafür Sackgasse, wohl mit Bedacht, denn laut Jochen werden hier auch die verdächtigen Einreisenden hingeführt. Eben Jochen und Helga…. Wir sind nicht sicher, ob wir hier richtig sind. Der gemächlich reagierende Officer am Schalterfenster – wir überholen eine Reihe von „Verdächtigen“, die irgendwie slawisch sprechen – bestätigt aber, dass man „unfortunately…“, also unglücklicherweise die Schifffahrtssektion hierher verlegt habe. Klingt ja alles total fröhlich und zufrieden beim CBP und der Homeland Security. Der uns behandelnde Officer allerdings ist fix und verständnisvoll, fragt ein bisschen nach Woher und Wohin, wann wir eingereist sind und wieder ausreisen wollen, und kommt nach 10 Minuten mit einem schmucklosen Blatt wieder, das nun als Cruising Permit in unserem Ordner ruht. Ich denke, das Wesentliche ist die Aufnahme ins elektronische System – wir müssen eine „Nummer“ haben. Haben wir.
Der Rest des Aufenthaltes ist Tourismus, Besuch in Annapolis, das Seglerzentrum der Chesapeake Bay (Annapolis Boatshow gerade frische ausgefallen…), Besuch am Fort McHenry, wo das erste Mal das „Star Spangled Banner“ wehte, vor dem man nicht auf die Knie gehen darf, Spaziergang am – in seltsamem Kontrast zum verfallenden Industriehintergrund stehenden – glitzernden Hafen von Baltimore (nein, wir waren nicht bei der Cheesecake Factory, und ja, die historischen Schiffe sind alle geschlossen…). Ein Tag in Washington – wir parken am neuen „Black Lives Matter“ Triangle, wo noch immer der riesige Schriftzug auf der Straße prangt, in Spuckweite zum Weißen Haus. Die Glasfronten sind zwar mit Holz verschlagen, aber die Häuser mit „BLM“ Schildern bepflastert. Beeindruckend. Beeindruckend auch, dass das Parkhaus quasi so leer ist wie sich die National Mall – die Verbindung zwischen Capitol und Lincoln Memorial – eigentlich wie die ganze Stadt als leer herausstellt. Keine Touristen, nur vergleichsweise wenige, geschäftige Ortsansässige, und die Leere im Parkhaus ist den „Home Office“-Zeiten geschuldet –  in dem Bürogebäude sitzen Firmen wie die New York Times, aber die sind halt alle daheim.
Donald ist nicht zugegen, der reist umher und tönt. Um dem etwas entgegenzusetzen, spiele ich ich unseren Tischnachbarn beim Frühstück in South Side Diner in Baltimore am letzten Tag des Ausfluges dieses schöne Lied vor – ich glaube, ich habe es schon einmal verlinkt, aber da es Laune macht und auch politische Neuerungen aufgenommen hat (die Taliban, zum Beispiel) kommt es hier noch einmal, und die Tischnachbarn, afroamerikanisch, versprechen, sich daran zu halten: Vote Him Away.
Was das betrifft sind wir gespannt. Was auch immer passiert, hier spielt sich ein Krimi ab – eben lese ich, dass Donnie (von Freunde gern IQ45 genannt) gerade angedroht hat, eine „presidential executive order“ zu erlassen, die die Wahl von Biden unterbinden soll. Nein, das steht nicht in der „Onion“. Und die einen Leute jubeln, während andere sagen, dass sie sich keinen Biden-Bumpersticker ans Auto bappen „because you never know“. So weit ist es gekommen.
Drückt mal schön die Daumen, dass wir einen zeitigen und eleganten Weg heraus finden. Nicht nur wegen des Wetters – wir ziehen uns warm an, politisch gesehen. Wettermäßig? Winterdeckenalarm.