Verfressenes Schweigen

Atlantischer Sonnenuntergang

Port Canaveral, 6.12.2020

Warum passt eigentlich keinerlei Nikolausgabe in eine FlipFlop-Sandale? Ich gebe zu, die Eigner-Flops sind ausgelatscht, mehr flop als flip, aber auch meine Birkenstocks standen an Deck, und nichts drin – muss man die beleuchten?  Ganz gleich, der Nikolaus war nicht da, jedoch kam das Geburtstagsmännchen zum Geburtstagsmann und bescherte einen schlichten (noch zu füllenden) „Angel Food Cake“. Mit Kerze. Immerhin.  Happy Birthday, lieber Eigner! Nachher lassen wir einen fliegen, hier in Canaveral – Elon Musks SpaceX schickt eine Nachschubkapsel zu ISS. Wir finden es wirklich nett, dass er den Start auf den Eigner-Geburtstag verschoben hat: als wir gestern in die Ferne lauschten, die avisierten 11:39 verstrichen und immer noch nichts passierte, kein Grollen, kein Lichtschein (im Nebel) ahnten wir schon – das wird eine Geburtstagsrakete. Oder dann zu Weihnachten.

Beaufort-Charleston war eher langweilig, zwei Tage, zwei Nächte Motorgebrummel. Nun ist das hier mit dem Golfstrom so eine Sache, schiebt der Nordwind einen nach Süden, türmt sich die See vor einem auf, das hat man, insbesondere frau nicht so gern, kommt der Wind aus Süden, hat man Strom und Wind auf die Nase, eigentlich ein Fall für „warten auf das ideale Wetterfenster mit moderatem Westwind… Wir wollen aber nicht weiter warten und nehmen Lärm und Vibrationen (dazu später mehr) in Kauf.

Charlestons Altstadt

Bis Thanksgiving halten wir es in Charleston aus, ein beeindruckend kolonial erscheinendes Städtchen –  natürlich eine moderne Großstadt, aber wer vor dem Stadtzentrum liegt, hat den alten Kern in fußläufiger Reichweite (und einen wunderbaren Harris Teeter Supermarkt). Die alten Handwerkerhäuser sind heute eher mit „Attorney at Law LLC“, also mit Rechtsverdrehern, Finanz- oder Immobilienmaklern und anderen werkzeuglosen Firmen besiedelt. Schicke Läden, von Victoria’s Secret bis zur polnischen Töpferei, ein paar Galerien und Restaurants (hübsch leer alles). Viele Kirchen natürlich, ein Querschnitt durch die Besiedlungsgeschichte, inklusive einer deutsch-lutherischen. Eine recht unamerikanisch europäische Anmutung, schön zum Spazierengehen. Historisch-ökonomischer Hintergrund: Sklavenhandel, vor allem der Briten.

Neues Charleston: die Brücke über den Cooper River

Wir liegen in einer städtischen Marina – nur eine Handvoll Plätze werden verwaltet, und zwar coronagerecht: es gibt keinen Zugang zu irgendwelchen Klos oder Waschräumen, kassiert wird aber persönlich am Steg per Kreditkartentransmitter, und das Empfangskommittee ist nett und sehr bemüht. Weil das mit den Duschen nicht funktioniert, gibt es den Strom für das haus-/bootseigene Warmwasser umsonst; wir können ein paar Tage lang auch den Heizlüfter gut gebrauchen. Ist halt Winter hier an der Ostküste, und obschon es in South Carolina gelegentlich angenehm frühlingshaft ist, gibt es auch das Unangenehme am Frühling, das Feucht-Kalte.

Ein Containerfrachter „dackelt“ zum Terminal in Amerikas 4.-größtem Hafen

Der Strom im Fluss ist kräftig, nebenan schieben dicke Containerschiffe und Autotransporter ein bisschen schief durch die Fahrrinne. Vorne ein Schlepper, hinten einer, so geht das. Wir werden bei Ankunft wegen des starken Querstromes gewarnt und kassieren dann ein lobendes „… look at that! They know what they do!“.  Mein Eigner, der Anlegekünstler.
Am Thanksgiving Day  – den wir natürlich fast verpasst hätten, für uns ist halt der 4. Donnerstag im November ein Donnerstag – ist es draußen fast totenstill. Niemand auf den Straßen, niemand mit dem Boot unterwegs. Ich dachte immer, dass Thanksgiving ein Dinnerereignis sei, aber uns stellt sich diese Stille schon tagsüber als verfressenes Schweigen dar. Ob es da sowohl mittags wie abends Truthahn gibt?  Am Nachmittag werden Hunde und Kleinkinder kurz spazierengeführt, danach herrscht wieder Stille. Wenn man in die News und Social Media schaut, ist seit Tagen Gravy-, Truthahnfüllungs-, Cranberrysaucen- und Pumpkin Pie-Alarm.  Die Leute müssen von der Völlerei so fertig sein, dass sie sich am Folgetag, dem berüchtigten Black Friday, alles andrehen lassen – der Dockmaster ist Gamer und will uns so rasch wie möglich loswerden am Freitag. Black Fridayyy! Shopping! Alle Spiele zum halben Preis! Sagt er mit träumerischem Blick.

Weiter geht’s. Charleston-Fernandina Beach in Florida ist der Plan, gerade hinter der Grenze zu Georgia. Der Segeltag ist gemischt, teils stark bewölkt. Morgens früh stehen wir vor der Einfahrt nach Fernandina, es regnet und ist kühl und feucht – nicht das Wetter, um es sich am Ankerplatz recht gemütlich zu machen: „… was hältst Du davon, wenn wir gleich nach Cape Canaveral durchschieben?“  Uggh. Ich habe gerade meine Hundewache beendet, da fehlt es mir an der Flexibilität für spontane Planänderungen, aber wie der Käpt’n so ist, überredet er mich doch. Noch ein Tag, noch eine Nacht, immer schön die Küstenlinie entlang südwärts. Der Strom ist mit uns – sehr interessant zu sehen (zum Beispiel bei Passageweather), wie sich das von Tag zu Tag ändert: man hat häufig nach Süden setzenden Gegenstrom zum Golfstrom, und das bleibt auch so bis zum Kap – das ist der östlichste Buckel in der Floridaküste. Je näher wir ihm kommen, umso mehr Verkehr, in den frühen Morgenstunden mehren sich nämlich die Angelboote auf dem Weg ins Sonntagsvergnügen. Mein Highlight: ein Gegner mit AIS, den man überhaupt nicht ausmachen kann in der nun dunklen Nacht. Mit 30 Knoten (30 Seemeilen/h, also 54 km/h) genau in unsere Richtung – wie ich es liebe. Als der Vektor auf dem Plotter anzeigt, dass wir nicht kollidieren werden, fegt er, ein sicher gut motorisiertes Freizeitboot, an unserer Steuerbordseite vorbei. Ein Vollpfosten ohne jedwede Beleuchtung. Mit 30 Knoten – so ein Horst. Nachtwachen können wirklich anstrengend sein; auf der Strecke nach Charleston hat mich eine einsame, unbeleuchtete Tonne auf meiner direkten Kurslinie 1 1/2 Stunden in Trab gehalten. Fluch und Segen der elektronischen Navigation –  früher hätte man drauf zugehalten bis es „kläng“ macht. Nachdem die Angler durch sind, wird der Horizont grau, Dämmerung, Sonnenaufgang, Frühstück. Am Horizont stehen die alten Gebäude für die Spaceshuttles und Apolloraketen, daneben die Startrampen für SpaceX und Co.   Cape Canaveral und das Kennedy Space Center gleiten vorbei..
Wir biegen in den Bargekanal ein (das ist der Kanal, über den Raketenteile ins Space Center geschifft wurden). Der Tankstopp an der Cape Marina entbietet ein tolles Willkommen: Blue Lives Matter Flagge*, Make America Great Again, Konföderierten-Tuch – hier sind wir ja richtig; wobei ich Blue Lives Matter am schlimmsten finde. Schnell bezahlen und nix wie weg. Kontakt mit dem Port Canaveral Yacht Club: den neuen Dockmaster kennen wir nicht, ich frage nach Matt, dem drahtigen Navyveteranen mit dem Hang zu Donald „…  nein, die sind weg, aber Ihr erkennt unser Boot an den Flaggen, in spot 5.“ Ihr ahnt es. Wenn es nur die riesigen Stars and Stripes wären, die man da über der Marina wehen sieht, aber viel augenfälliger ist „Trump 2020 – No More Bullshit!“ . Wir sind nicht die einzigen, die wenig begeistert sind von so viel Trumptreue (und, wie sich herausstellt, Coronaleugnung). Vor allem die Durchreisenden aus dem Nordosten  – hier gern „snowbirds“ genannt, frei übersetzt mit Schneehühner, die dem nördlichen Winter entfliehen, auf Booten, mit Flugzeugen und allem was sich sonst bewegt – bieten sich für einvernehmliche Gespräche an, während man gegenüber den betreffenden Fahnenschwenkern eher in peinliches Schweigen verfällt.  Der Tenor übrigens liegt derzeit eher bei „hoffentlich war’s das jetzt!“. Hochstimmung geht anders. Donnie tönt auf widerliche Weise in Georgia herum, glücklicherweise wirbt er bei seinen Anhängern für die Stichwahlen und macht gleichzeitig das System so schlecht, so dass sich hoffentlich recht viele Republikaner entscheiden, diese Senatorenwahl auszulassen (Obama himself trommelt auf der anderen Seite, auch eine Premiere –  ex-Präsidenten haben sich bislang immer vornehm zurückgehalten). Wäre nicht übel, wenn der Senat eine Demokratenmehrheit bekäme – jede Stimme, jeder Zentimeter in die richtige Richtung hilft. Witz am Rande: gestern Abend nennt Trump die hoffentlich neue Regierung „marxist“.  Mei, ist das ein mühsames Geschäft, und so abstoßend, dieses Prozedere. Wobei es natürlich auch viel zu lachen gibt, insbesondere um den neuerdings auch öffentlich furzenden Rudy Giuliani. Eine Wahnsinnstruppe.

Da machen wir doch lieber Handwerkliches. Erst will der Sterling Laderegler nicht, wie der Technikus will (da könntest Du mal einhelfen, Roland!). Die Schipperin jammert: die Kühlbox kühlt nicht mehr. Das regelt der Eigner mit Einbau eines lange mitgeschleppten Ersatzreglers, nach ausgiebiger Korrespondenz mit Isotherm, die bei so alten Geräten natürlich nicht wirklich helfen und schon gar keine Ferndiagnose liefern können. Lustig: eine Kontrollleuchte erlischt gar nicht mehr, auch nicht, wenn man das Gerät abschaltet, stattdessen erfreut sie uns mit dem hellsten Diodenrot, das die Akka je gesehen hat. Aber immerhin, die Box kühlt. Naja, nicht wortwörtlich – jetzt gefriert sie. Besser als nüscht.

Die ausgiebigen Motorstunden haben leider auch zutagegefördert, dass wir nach kunstvollem Aus- und Wiedereinbau der Propellerwelle in Deltaville „neue“ Vibrationen haben. Unsere ehemalige Lieblingsdrehzahl lässt Akka sich schütteln. Nicht doll, nur anders. Und unangenehm. Das macht mal wieder Sorgenfalten, Kopfschmerzen, schlechten Schlaf beim Chief, und kleinere Horroszenarien tauchen auf: was, wenn wir noch einmal aus dem Wasser müssen? Nochmal die Welle ziehen? Wo? Wann? Irgendwie würden wir ja doch gern weiter in die Bahamas –  und wenn man bedenkt, wie sorglos hier im Süden mit Coronamaßnahmen umgegangen wird, stellt sich die Frage, wann hier die „Thanksgiving-Welle“ eintrifft. Ob die Bahamians uns dann überhaupt noch haben wollen?  Also zermartert sich der Eigner den Kopf, was wie wohin geschoben werden muss bei der Motorausrichtung – schließlich geht es nur um Millimeter. Zwei Flansche – ein Spalt öffnet sich oben. Lässt sich regulieren. Prima. Jetzt öffnet sich ein Spalt nach schräg unten. Es wird gegrübelt, gezeichnet, theoretisiert und Zahlenreihen werden vor sich hin gemurmelt. Und das einzige, was ich tun kann, ist Bratkartoffeln mit Spiegelei und Salat zu servieren. Ob’s hilft? Der Versuch, den Motor um 3 millipü zur Seite zu rücken, misslingt, dennoch ist das Endergebnis tagelanger Denk- und Schraubarbeit deutlich besser als der vorherige Zustand. Gut. Putzig, dass ein Schiff, das an Land steht, sich so anders formt als wenn es schwimmt. Nigel Calder, unser Bibel-Autor und Ratgeber in allen Technikfragen sagt: „…engine alignment can be time consuming and very frustrating!“ Wohl wahr…
Und nun?  Verfallen wir in verfressenes Geburtstagskuchenschweigen.

Weihnachtspäckchen unterwegs zur ISS

Die SpaceX ist soeben Richtung ISS abgehoben – gewaltig. Ich denke, die Astronauten werden auch verfressen schweigen können, da ist außer frischem Equipment auch die ein oder andere Weihnachtsschokolade an Bord.

Von Vibrationen (weitgehend) befreit geht Akka demnächst weiter. Letzte US-Station: West Palm Beach, Donalds Home-Turf – von uns allerdings nicht seinetwegen, sondern als Ausgangspunkt für die kürzestmögliche Strecke in die Bahamas gewählt. Der Segler muss innerhalb 5 Tagen einen Corona-Test absolvieren, ein Health-Visum in den Bahamas beantragen, das negative Testergebnis eilig dorthin mailen, die Erlaubnis für die Einreise abwarten und dann hinüberhupfen und mit all dem Papierkram vorstellig werden. Die zeitlichen Prognosen für dieses Hin- und Her sind bislang aber günstig, trotzdem macht sich eine Tagestour als Reisedistanz gut. Oder ein „Overnightie“. Wir werden sehen.

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* Blue Lives Matter ist eine Bewegung, die sich gegen Gewalt gegenüber der Polizei einsetzt. Die Flagge ist eine schwarz-weiße „Stars & Stripes“ mit einer blauen Linie, der „thin blue line“. Statistisch steht Gewalt gegen (blau gekleidete) Polizisten in keinem Verhältnis zur Gewalt gegen schwarze und farbige Amerikaner und den systemischen Rassismus in den USA.