The extra mile

West Palm Beach. Vorne ziemlich „hui“!

West Palm Beach/Florida, 18.12.2020

Walking the extra mile – das nennt man hier so, wenn Leute einen Umweg für einen machen. Oder auch „going out of their way“, seinen Weg verlassen, für andere. Nett können sie hier sein, wirklich. Politisch ist es nach wie vor kitzelig, zwar bastelt Joe Biden an seinem Kabinett und setzt Leute ein, die auch ein bisschen die enttäuschten Progressiven einfangen sollen, die für das kleinere Übel gestimmt haben (Buttigieg, Haaland, Regan in den letzten Tagen), währenddessen heizt Donnie weiter die Stimmung an (schickt aber auch trostreiche Sprüche nach Europa „the vaccine is on its way!“.  Immer für eine Clownnummer gut, der Herr). Mein Lieblingsspruch dieser Tage ist – ich übersetze mal „Obwohl die Wissenschaft festgestellt hat, dass Corona überwiegend durch Mund und Nase übertragen wird, steht nun fest, dass Arxxlöcher den wichtigsten Übertragungsweg bilden“. Das ist ein Meme mit Lucy aus den Peanuts, sehr schön!  Da Lucy ja auch das Psychologenbüdchen bei den Peanuts betreibt (zur Erinnerung: „The psychologist is: IN“), gibt es auch ein Bild von Donnie an diesem kleinen Beratungsstand: „Pardons 1 Dollar – The President is: IN!“  Möglicherweise ist er das dieser Tage tatsächlich, ganz in der Nähe, und hält den Verkehr auf: wenn Trump in Mar-a-Lago ist, öffnet die Flagler-Memorialbrücke nur ganz selten. Der Kerl hält den ganzen Schiffsverkehr auf, der Gegensatz zur extra mile. Ein Nachbar hat ihm dieser Tage geschrieben, er möge doch bitte woanders hinziehen als nach Mar-A-Lago…

Wir haben es auch gerade mit Meilen zu tun. Zunächst mal hatten wir wunderbare Segelmeilen von Cape Canaveral nach West Palm Beach, 19 Stunden sanftes Segeln. Gern würden wir jetzt die Meilen nach den Bahamas hinter uns bringen, auch dazu muss man die „extra mile“ einrechnen: man muss nämlich des Golfstroms  wegen ordentlich nach Süden vorhalten. Aber dazu gibt es im Moment gar keine Gelegenheit –  das Wetter nagelt uns fest. Diese Woche hatten wir ein klitzekleines Fenster, in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag, das wir ab Montag scharf beobachtet haben. Wir arrangieren den Covid-Test für Dienstagmittag auf dem Parkplatz des Palm Beach Sailing Clubs (auch das eine extra mile, mit dem Dinghy…), aber das Fenster wird immer kleiner, so dass wir uns dagegen entscheiden; den Testtermin können wir gerade noch absagen. Nun sitzen wir hier, und bis nach Weihnachten sieht alles ziemlich „windig“ aus, und zwar windig aus der falschen Richtung.  Wir werden es verkraften und die Situation im Auge behalten – das Visum ist noch 5 Wochen gültig, nach Weihnachten  sollte was gehen.
Aber es werden keine Däumchen gedreht – während ich mit mehr oder weniger dauerhaft schließenden Einmachgläsern kämpfe (die eingekochten Bratwürstchen im Bonne Maman-Glas haben wir gestern Abend zur Hälfte vertilgt, wegen „Unschlüssigkeit“), macht sich der Eigner an Technisches. Langweilig ist es nicht, und es erfordert einige Radelmeilen in der Stadt.

Intrepid. Nur das Begleitschiff für die Luxusyacht Infinity *

Unsere Ankerposition ist ein bisschen abgelegen, zumindest was das Feld der anderen Ankerlieger betrifft, ich finde es aber angenehm hier. Ich kann schwimmen, das ist wichtig, ab und zu kommt eine dieser wahnwitzigen Luxusyachten vorbeigeschippert und lässt unsere Münder offen stehen. Vor uns die Reihe derLuxusanwesen, hinter uns werden Container geladen, gute Mischung. Allerdings muss man einiges auf sich nehmen, wenn man zum Einkaufen möchte: entweder man bindet sich für ein kleines Parkentgelt bei der Riviera Beach Marina an (tadadadaa! Klingeling! 16 Dollar für 3 Stunden!) und hat es dann nicht gar so weit zum Publix Supermarkt an der Blue Heron Bridge, oder man rödelt die extra mile nach Süden zum Palm Beach Sailing Club, muss dafür dann 3 Meilen zurück nach Norden, und das inklusive der steilen Hafenbrücke.  Bei anderen Anlegemöglichkeiten machen wir die Erfahrung, dass man nicht immer die „extra mile“ geht, um es uns nett zu machen, da kriegt frau dann ein striktes „…we don’t do dinghy docking“ zu hören (dabei war’s beim Schwesterclub von Riviera Beach. Dummbätze. Oder auch nicht, ich glaube, Amerikaner leben oft in der Furcht vor Schäden und haben gern Rechtssicherheit). Das Resultat – nämlich unverrichteter Wäscherei- und Einkaufsdinge abzuziehen – fordert meine Ungeduld ungebührlich heraus, so dass die Stimmung eine kleine Delle kriegt. Szenen einer Bootsehe. Da kümmern wir uns doch lieber um die Gefrierbox. Will sagen: the extra mile, per Fahrrad. Die Räder schließen wir nun beim Sailing Club an (Wochengebühr 100, aber dafür dürfte man auch duschen, parken …) und dann ab dafür. Australian Avenue, Beard Marine – Bestellung einer neuen Kühlschranksteuerung. Dabei fällt uns ein, dass das Wasser in letzter Zeit einen leichten Salzgeschmack hat –  ob wir eine neue Membrane bestellen können? Die alte datiert aus dem Jahr 12.  Wir können. Zurück zum Boot, Wasservorrat herstellen und die Membrane ausbauen. Der Eigner schnallt sich die 1.20 lange, schwarze Röhre kunstvoll auf den Rücken, ich radele hinterher und wünsche: hoffentlich kommt nicht der Sheriff und fragt nach einer Waffengenehmigung. Gut auf diesem Weg die stadtplanerische extra mile: der President Obama Highway hat einen ausreichend breiten Fahrradstreifen. Wir radeln zu Beard durch eine Gegend, die als „besser nicht bei Nacht durchstreifen“ beschrieben wird – es ist wirklich unglaublich, was für Welten hier in West Palm Beach aufeinander stoßen, aber wir sind ja auch nur ländliches Virginia wirklich gewohnt, und da tritt der systemische Rassismus nicht so zutage. In jedem Fall: Dem-Wähler-Domäne.

Nach dem Motto: „irgendwas ist immer“ gibt meine Fahrradschaltung nach dem steilen Anstieg über die Hafenbrücke auf, also gibt es anderentags eine „extra mile“ zum „Breward Motorsports Spezialized“ Fahrradladen (man befleißigt sich auch des Motorrad- und, wichtig in Florida, des Jetskivertriebes). Weil wir auf dem Weg – macht unterm Strich eine Meile weniger! – die Wäsche endlich einliefern wollen, kommt es zu einem netten Erlebnis: während der Eigner das defekte Fahrrad bewacht, lasse ich, weil sie auf den Schultern zu schwer wird, die Tasche an einer Straßenkreuzung dieser wenig belebten Gegend rasch auf dem Rasen sitzen, um in eine nahegelegene Münzwäscherei zu flitzen, und zu checken, ob es auch einen Abholservice gibt. Oh, Sancta Naivitas. Zwei Minuten später ist die Tasche mit all unseren guten, dreckigen Sachen verschwunden… „Hey! Hey – stop that!“. Das gilt dem jungen Mann mit dem Mountainbike, der gerade 20 m weiter unsere schöne Ikeabettwäsche, Buxen und Geschirrtücher auf der Wiese verteilt, zwecks Vorsortierung. Mein CAT-Hoodie aus Patagonien liegt schon separat, das wäre ein herber Verlust gewesen, aber der Typ springt auf sein Fahrrad und flitzt vondannen. Glück gehabt. Der weitere Weg ist lang, aber die Fahrradreparatur geht fix vonstatten, Max aus Argentinien hat den Trick raus – er meint, es sei nur die schlappe Kette, irgendwie muss das Hinterrad ein bisschen in die Ausfallenden gerutscht sein, während wir eher an Drehgriffschaltung, Kabel und Ritzel gedacht hatten. Wir halten einen Schwatz, können mit Südamerikareiseerfahrung punkten, Max macht sich die Hände für uns schmutzig – und natürlich ist der Service kostenfrei. Nächster Stop ist der Best Buy (Media Markt für Amerikaner) und seine Service-„Geek Squad“, die sich des Eigners Rechner anschauen sollen; der will nämlich nicht mehr starten, elektrisch (siehe oben, irgendwas ist immer). Der Entschluss ist nach der Aussage „difficult, 400$ for a diagnosis“ ist sofort gefasst, nach nur 22 Monaten gibt es ein neues Gerät. Das ist aber nicht in dieser Filiale erhältlich, sondern „nur 8 Meilen, 15 Minuten weg! In Wellington!“. Klar, mit dem Auto – aber mit dem Fahrad?  „…what? BICYCLE?“ Ja, Pustekuchen, die Uhr zeigt 15:30, in 2 Stunden sollten wir bei Akka sein.  8 Meilen Fahrrad in die falsche Richtung? No way. Und noch sind wir ja auf dem Trip „nächste Woche geht’s weiter“, also passiert online auch nichts. Auftritt Scott Feldman, seines Zeichens HP-Vertreter: „… ach, ich hole Euch das Gerät her. Soll ich zwar nicht, mache ich aber für Sie!“  Wenn das mal nicht die extra mile ist, im wahrsten Sinne des Wortes durch den Feierabendverkehr. In der Wartezeit kommt ein kleiner Meilenrückschritt, der wohlverdiente Kaffee bei Dunkin‘ Donuts ist mal wieder ein Geduldsspiel mit desinteressiertem Kassierer und einer Barista in der Hauptrolle, die zwischen Bezahl- und Brühvorgang erst einmal länglich aufs Klo muss… (soviel zu Service- und Freundlichkeitsparadies Amerika).  Jedoch: um 17 Uhr ist Scott zurück und strahlt, alles geregelt, wir treten in die nun wieder vollumfänglich funktionierenden Pedale, 4 Meilen heimwärts zum Sailing Club.  Sonnenuntergang um 17:30 … Passt! Als wir das Dinghy auf Relingshöhe kurbeln, wird es dunkel. Viele Meilen! Und einige extra miles!

 

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* wir schreiben einen Wettbewerb für offene Münder und Kieferklemmen aus: 

Supportschiff Intrepid , 27 Crew. Mutterschiff Infinity  8 Crew, 14 Gäste. Ob die Beschäftigten auf Infinity wohl per Beiboot oder per Helikopter hin und her sausen?  Was ein schnöder Werkzeughandel so hergibt…