Passagealltag

Unterwegs zu den Azoren, Tag 7. 15.6.2022
Frühe Morgenstunde. Die Sonne ist schon eine Stunde zugange, ich habe 05:03 Bordzeit/Bermudazeit für den Aufgang notiert, es wird wohl Zeit, die Bordzeit der erreichten Länge anzupassen – das ist jetzt so ungefähr 49° West, und noch knapp 1000 Meilen nach Horta. Das ist ein ziemlich wildes Wettergefrickel hier und im Moment laufen Diskussionen, ob Horta überhaupt erreichbar ist: ein dickes Hoch stellt sich uns in den Weg und beschert uns schlecht überwindliche Gegenwinde. Mal gucken. Alternativ bieten sich eigentlich nur der Englische Kanal oder A Coruna in Spanien als Ziel an.
CHronologisch: am Montag, 6.6., kam Alex in St. Georges zu Besuch. Ziemlich spannend, im Sinne von anspannend, denn die Wetterprognosen nähern sich über Tage immer weiter an, und da das eine Modell Alex östlich der Bermudas sah und ECMWF knapp westlich, sah es nach einem „Hit“ für Bermuda aus. Predict Wind bietet eine parallele Darstellung von GFS und ECMWF an – unser Dauerbrenner auf den Rechnern über Tage. Sonntag werden noch einmal Leinen gezuppelt und eine sehr lange Spring zur vor uns liegenden Straßenbrücke gelegt, und dann… warten. In den frühen Morgenstunden geht es los, erst aus Süd – da schützen uns das Hafenmeistergebäude und das „White House“. Der Durchgang ist schulbuchmäßig, Süd, Südwest, West, Nord. Bei Südwest bläst es unter der Brücke durch, die unruhigste Zeit. An Schlaf ist nicht wirklich zu denken, ich schrecke so gegen 4 auf und klettere ins Cockpit. Der Eigner steht an Land und korrigiert Leinen und Fender, er in Öljacke, neben ihm Fabian, unser Hinterlieger aus Wien, in Badehose. Praktisch denken… „Ab! Geh‘ ins Trockene!“ Yes, Sir. Bei West ist der Windeinfluss auf Akka schon gebrochen, weil parallel zur Inselkante, und Nord bedeutet, dass wir im Schutz des Berges sind. Um 7, volle Südwestlage, gehen wir raus und schauen uns an, was die Kollegen draußen an den Ankern so machen – es sieht teilweise wild aus, obwohl ja die Bucht von St. Georges eigentlich voll geschlossen ist. Five&Dime tanzt in der Gischt und zerrt am Anker, beim Docknachbarn hat sich die Fock halb gelöst und knattert im Wind. Ein infernalisches Geräusch. Es ist bei aller Anspannung toll, einigermaßen geschützt im Cockpit zu sitzen, den irren Wolkenzug zu beobachten und Hoffnung machende Wolkenlücken zu entdecken. Berechtigte Hoffnung: zu Mittag bläst es noch gut, aber eben aus Nord und damit über uns weg, und die Sonne scheint. Vorbei. Das war Alex, der erste atlantische Tropensturm 2022. Gesehen haben wir selbst 50 Knoten, aber ich gucke da ungern hin – die Ankerlieger draußen berichten von mehr. Gesamturteil: Ging so. Einen ausgewachsenen Hurrikan muss frau nicht miterleben. Wir gönnen uns wie alle einen Ruhetag, aber der Sturm hat wohl die Seglergemeinde aus dem friedlichen Bermudaschlaf gerüttelt: es muss weitergehen. Am Mittwoch gehen diverse Boote raus, wir ziehen den Donnerstag vor. Weniger Welle am Reisebeginn macht sich besser. Die ersten Tage sind ziemlich ruhig, so ruhig, dass wir am Abend des zweiten Tages beschließen, den Genaker zu setzen, auch wenn das nicht meine Lieblingsbesegelung für die Nacht ist. Die Genua wird weggenommen, damit der Autopilot den Kurs halten kann, bekommt er kurzfristig Motorunterstützung. Ich bastele schon mal den Genakersack aus dem Vorluk, gehe wegen der Schot nach achtern und denke: „… klingt echt sonor, der Motor!“ Da springt schon der Eigner an Deck: „Kein Kühlwasser!“ Mannnn. Klar. Eigentlich hätte ich jetzt Freiwache, gleich wird es dunkel. Wat nu? Weitermachen. Der Pinnenpilot hält den Kurs tapfer auch unter reinem Be,sanantrieb, gutes Kerlchen. Wir zerren den Genaker hoch, schöpfen kurz Luft im Cockpit und dann ein ergebenes: „Ich geh dann mal runter, Diagnose und Instandsetzung!“. „O.k. – ich bleibe so lange am Ruder!“ Genakerblase vorn und Windpilot vertragen sich nämlich nicht hundertprozentig, da bedarf es ab und zu einer zackigen Korrektur. Während unten Türen klappern und Werkzeug klirrt genieße ich den frühen Abend. Angenehm. Akka zieht ordentlich davon, es hat auch ein bisschen Wind zugelegt, vielleicht sogar einen Ticken zu nah an der Windstärkengrenze für die dicke Blase. Nach einer Weile kommt von unten eine mittelmäßige Entwarnung. Es ist eindeutig so, dass wir dünnhäutiger geworden sind und solche Zwischenfälle rufen gleich irgendwelche Horrorvorstellungen von nicht reparablen Defekten hervor. Nicht so schlimm, wenn man nicht gerade mehrere hundert Meilen von Land entfernt ist. Aber nun „… ist tätsächlich nur der Impeller!“. Es klappert weiter. UNd bei mir? Ritsch! Das war das Vorliek vom Genaker, ach Du Schande. Das Riesentuch flattert wild im Wind. Jetzt braucht es den Motormann leider auf dem Vorschiff. Hoffentlich kriegen wir das Teil ohne Theater runter. Obwohl der Genaker defekt ist, hat er noch genug Zug, um den Eigner, der die Bergesocke herunterzieht, auf dem Hintern sitzend über’s Deck zu hoppeln. Aber doch, das Vieh kommt runter. Ein Teil geht baden – eine schöne Demonstration, wie schwer so ein „Leichtwindtuch“ plötzlich ist, wenn frau es aus dem Ozean heraufzerren muss. Das nasse Teil wird gestaut, der Eigner geht seiner Impelleraufgabe nach, und kaum ist meine Freiwache vorbei, läuft der Motor, Akka zieht unter Genua friedlich dahin, und wir genießen ein Stück Belgische Importschokolade aus Bermuda. So viel Belohnung muss sein.
Ach, übrigens: eMailverkehr ist immer noch quälend langsam. Aber Wetter kriegen wir trotzdem – nachdem so viele Leute berichtet hatten, dass sie Wetterwelt und Predict Wind parallel benutzen, gab es einen Predict Wind-Testballon auf Akka. Und siehe da: großräumige Gribfiles kommen herein! Nicht in Windeseile, aber doch in angemessener Geschwindigkeit! Schönen Dank für die Ermutigung aus Hawai’i an die Flora. Sagt der Eigner kürzlich, als der Satellitenrouter einen kurzen Schluckauf hatte: „Siehste! Der Computerkram ist Dein Impellerstress!“ Stimmt.
Wir laufen gerade vor einem Tief weg, in Richtung Hoch, das uns nicht nach Horta lassen will. Aber davon lassen wir uns nicht stressen. Kochen, essen, schlafen. Hörbücher hören. Lesen. Passagealltageben
—- This e-mail was delivered via satellite phone using Global Marine Networks, LLC’s XGate software. Please be kind and keep your replies short.